Über

Autor*innen

Galerie

Impressum

Datenschutz

Songwriting   Über das  was Taylor Swift einmalig macht But if the story’s over   Why am I still writing pages? Taylor Swift    By A Thousand Cuts Bei der Recherche für dieses Kapitel schlägt mir Google folgende Suchanfrage vor  »Are there any Taylor Swift songs that aren’t about love?« Ich muss gleichzeitig schmunzeln und die Augen verdrehen bei der Vorstellung  wie Menschen  vielleicht neugierig  wahrscheinlich genervt und ganz bestimmt ungläubig  das Internet befragen  ob denn »diese Frau« auch noch andere Themen kennt neben der elendigen Gefühlsduselei namens Liebe  Neben der Behauptung  Taylor Swift schreibe ihre Songs »doch niemals selbst«  ist das wahrscheinlich das zweitgrößte Vorurteil  das sie seit Beginn ihrer Karriere verfolgt  Mit vierzehn unterzeichnete sie als bis dahin jüngste Künstlerin im Unternehmen ihren ersten Songwriting-Vertrag mit Sony / ATV Music Publishing  Zwanzig Jahre später hat Taylor Swift mit ihrer Songwriting-Kunst offiziell ihre academic era erreicht  Denn nicht nur verlieh ihr die New York University 2022 einen Ehrendoktortitel der bildenden Künste  auch belegt ihre Lyrik mittlerweile Ehrenplätze in den Stundenplänen mehrerer Unis und Colleges  an der Queen Mary University of London  in Stanford und Harvard sowie auch hier in Europa  etwa im belgischen Gent  Eine Entwicklung  die wir Swifties voller Stolz beobachten  studieren wir ihre Lyrics ja schließlich schon seit Jahren  Sobald ich gefragt werde  was mich an Taylor Swifts Musik so begeistert  öffnet sich in meinem Kopf eine Tür zu einem ganz besonderen Ort  zum riesigen Archiv  das gefüllt ist mit Songtexten  Analysen und Interpretationen  akribisch kategorisiert nach Themen und Emotionen  einsortiert in Register  die ich je nach Bedarf herausziehen kann  Ist dieses Portal einmal geöffnet  verwandele ich mich in einen Swift-Algorithmus  der passend zur gewünschten Stimmung Songs empfiehlt  »Du hast gerade XY erlebt und weißt nicht  wie du dich fühlen sollst? Probier mal diesen Track!« Die Pflege dieses Archivs besteht aus der kollektiven Arbeit aller Swifties  die Stunden über Stunden in Videos  Beiträge und Memes investieren  um der lyrischen Qualität von Taylor Swift die Aufmerksamkeit zu verschaffen  die sie verdient  Und jedes Mal  wenn ein Nicht-Swiftie ein Reaction-Video hochlädt und sich Hals über Kopf in die »überraschend tiefgründigen« Texte von Taylor Swift verliebt  klopft sich irgendwo ein Swiftie heimlich auf die Schulter und denkt  Nice  wieder eine n bekehrt  Die öffentliche Wahrnehmung hat sich also verändert  und Taylor Swift gilt jetzt auch in akademischen Kreisen als relevante Geschichtenerzählerin  Ich freue mich  Gleichzeitig frage ich mich  wie viel eine Frau schreiben muss  um ernst genommen zu werden? Im April 2024 veröffentlichte Taylor ein Doppelalbum mit insgesamt einunddreißig Songs  The  Poets Department  The Anthology  Alle Lieder davon hat sie entweder selbst oder in Zusammenarbeit geschrieben  so wie die über zweihundert anderen auf ihren vorherigen zehn Alben  Laut einer allgemeinen Pressemeldung der dpa  die von einigen Feuilletons unbearbeitet übernommen wurde  sei damit endlich der »Grundstein für die Karriere einer großen Erzählerin« gelegt (1)  Taylor Swifts Songwriting ist das unverkennbare Herzstück ihres Schaffens  Storytelling der rote Faden  mit dem sie ihre Konzeptkunst webt  Als sie 2022 mit dem Nashville Songwriter-Artist of the Decade Award ausgezeichnet wurde  verriet sie ihre drei persönlichen Genres  in die sie ihre Songs gedanklich einsortiert  basierend auf dem Schreibutensil  das am besten zum jeweiligen Song passe  Quill  Fountain Pen und Glitter Gel Pen  Wenn Taylor Swift Lyrics mit einem imaginären Glitzergelstift schreibt  dann entstehen dabei Songs wie »Shake It Off«  »Karma« oder »ME! (feat  Brendon Urie of Panic! At The Disco)«  Songs  die sich anhören wie die Unterhaltungen auf der Clubtoilette  wenn sich angetrunkene Frauen gegenseitig versichern  wie toll sie sind  Lieder  die wir alle ab und an einfach gut gebrauchen können  In das Füller-Genre fallen die Lyrics  die besonders bildreich sind und uns Zuhörende ins pulsierende Zentrum des Geschehens katapultieren   dorthin  wo es passiert  ob Herzschmerz  pure Freude oder Verlust  Hervorragende Beispiele dafür  »All Too Well«  »You Are In Love«  »Maroon« oder »The Black Dog«  Wenn ihre Texte hingegen »wie ein Brief klingen  den Emily Dickinsons Urgroßmutter beim Nähen einer Spitzengardine geschrieben hat« (2) dann handelt es sich um einen der sogenannten Quill Lyrics  also vermeintlich geschrieben mit Feder und Tinte  Mit diesem Bild im Kopf klingen die Songs »evermore (feat  Bon Iver)« und »Snow On The Beach (feat  Lana Del Rey)« gleich noch lyrischer  Das Talent für Poesie wurde Taylor Swift offenbar in die Wiege gelegt  laut einer amerikanischen Genealogieseite ist sie sogar eine entfernte Cousine der erwähnten Dickinson (3) Doch anders als ihre Vorfahrin tippt Taylor  ganz die zeitgenössische Poetin  die sie ist  ihre Texte auf dem Smartphone  wo sie ihre Ideen  Verse und Voicememos sammelt  Dass das Kapitel über Taylors Songwriting an fünfter Stelle im Buch steht  ist übrigens kein Zufall  Denn im Laufe der Jahre haben wir Swifties etwas festgestellt  das am Anfang nicht mal Mastermind Taylor selbst aufgefallen ist  Der fünfte Song des Albums ist immer der  der noch einen Ticken tiefer unter die Haut geht  Track five ist unser Code für »Text  in dem sich Taytay besonders ehrlich  emotional und verletzlich zeigt«  Kündigt sie ein neues Album an  huscht unser Blick sofort zu der Nummer fünf  es ist unsere Art zu fragen  Und  wie geht’s dir wirklich? So wie diese Frage meist nur Menschen stellen  die dich gut kennen  verstehen auch nur diejenigen  die der Karriere und dem Leben von Taylor schon etwas länger folgen  diese Texte auch immer ein bisschen besser  Es ist also nur verständlich  dass wir völlig angemessen ausgerastet sind  als die Tracklist zu The  Poets Department (TTPD) veröffentlicht wurde und uns »So Long  London« auf Platz fünf entgegenblickte  Eine für uns unmissverständliche Referenz auf ihren britischen Ex-Freund Joe Alwyn und damit ein Abschiedsbrief an ihren »London Boy«  die Muse für ihr Lover-Album  Ähnlich wichtig wie der fünfte Song ist auch der jeweils letzte eines Albums  So lässt sich z  B  »Dear Reader« am Ende von Midnights beinahe wie ein Cliffhanger für das Nachfolgealbum TTPD verstehen  Ein Album  dessen erweiterte Edition wiederum abschließt mit »The Manuscript«  Seit ich die musikalische Fortsetzung von Midnights kenne  hat die Zeile »Never take advice from someone who’s falling apart« aus dem Track »Dear Reader« eine besondere Bedeutung für mich  Es ist die Bitte einer Person  die sich zwischen zwei einschneidenden emotionalen Phasen ihres Lebens befindet  In einer Zeit der Ungewissheit  in der eine Beziehung zwar bereits vorbei  aber noch nicht beendet ist  Mit TTPD schließt sie daran an und findet mit selbstreflektierenden Texten Worte für eine Trennung  die sie zwar noch nicht versteht  aber akzeptiert  Sie schließt ab  etwa mit dieser Zeile aus »So Long  London«  »Had a good run / A moment of warm sun / But I’m not the one«  Oder zu guter Letzt in »The Manuscript«  »And at last / She knew what the agony had been for «  Mein sehr persönliches Track-five-Ranking aller Alben  11  »Cold As You« 10  »Dear John« 9  »White Horse« 8  »my tears ricochet« 7  »All Too Well« 6  »Delicate« 5  »All You Had To Do Was Stay« 4  »tolerate it« 3  »So Long  London« 2  »The Archer« 1  »You’re On Your Own  Kid«  Die lobende Erwähnung geht zudem an »How Did It End?«  da es streng genommen der Track five der Erweiterung von The  Poets Department  The Anthology und wirklich auch sehr  sehr gut ist   Reihenfolge und Binnenreferenzen sind nur zwei der Elemente  die Taylor in ihrem Songwriting- und Storytelling-Handwerk perfektioniert hat  Von Album zu Album spinnt sie feine Fäden und beantwortet Fragen  die sie Jahre zuvor aufgeworfen hat  Die Verbindung zwischen »Red« und »Daylight« wäre ein Beispiel dafür  im letztgenannten Song heißt es  »I once believed love would be burning red / But it’s golden«  An dieser Stelle des Textes stehe ich in meinem imaginären Archiv vor dem Fach mit der Aufschrift  »Gebrauch und Bedeutung von Farben in Taylor-Swift-Songs«  Ich lasse es verschlossen  passiere auch das kleinere daneben  »Die Verwendung von GOLD / GOLDEN in Verbindung mit Liebe / J  A «  und werfe stattdessen einen kurzen Blick in die Schublade mit dem Label »Metaphern   Mythologie«  Von Gedankenspiralen aus Zweifeln und Reue in »coney island (feat  The   die an die zu endlosen Torturen verdonnerten Sündiger in der griechischen Unterwelt erinnern  bis zur subtilen Referenz auf Sisyphos und seine schier unmögliche Aufgabe  eine schwere Last den Berg hinaufzubefördern in »this is me trying« (4) Ich werde das Gefühl nicht los  dass Taytays Herz für tragische Held innengeschichten schlägt  In der Ballade »champagne problems« beschreibt das Ich »your Midas touch on the Chevy door«  was die in Mythologie geschulten Hörer innen mit dem gierigen König Midas und seiner alles in Gold verwandelnden Berührung in Verbindung bringen  Im gleichen Song nutzt Taylor die Metapher »She’ll patch up your tapestry that I shred«  der Wunsch einer Frau  die den Heiratsantrag ihres Freundes ablehnt und ihm für die Zukunft eine Partnerin wünscht  die besser zu ihm passt   die also den Wandteppich flickt  den sie zuvor zerstört hat  Möglicherweise ein direkter Bezug auf Penelope  die Frau von Odysseus  auf dessen Rückkehr aus Troja sie vergeblich wartet  Sie lässt sich auf den Deal mit ihrem drängenden Vater ein  neu verheiratet zu werden  Ihre Bedingung  zuerst die Arbeit an einem Wandteppich zu beenden  Doch während sie tagsüber eifrig webt  löst sie nachts die Fäden  zerstört den Teppich  der so niemals fertig wird  Ein bewusstes Hinhalten also trotz einer zuvor getroffenen Abmachung   und damit auch eine Parallele zu Taylors lyrischem Ich  das nach langem innerem Ringen nicht bereit ist  ihren Liebhaber zu heiraten  Auch mit ihrem Song »Cassandra« greift Taylor auf eine Figur der Mythologie zurück  Cassandra besitzt die Gabe  die Zukunft vorherzusagen  doch der Fluch des zornigen Apollon verhindert  dass ihr geglaubt wird  Stattdessen wird sie für verrückt erklärt  ein Zustand  den Taylor nur zu gut kennt und mit den Worten »they filled my cell with snakes  I regret to say / Do you believe me now?« besingt   Eine hilfreiche Liste  um sich ganz gepflegt das Selbstvertrauen stärken zu lassen  »You Need To Calm Down« »I Did Something Bad« »Blank Space« »I Can See You (Taylor’s Version) (From The Vault)« »imgonnagetyouback« »New Romantics« »This Is Why We Can’t Have Nice Things« »Bejeweled« »I Can Do It With a Broken Heart« »We Are Never Ever Getting Back Together« »Bad Blood (feat  Kendrick Lamar)« »Look What You Made Me Do« »Karma«  Auch der Perspektivwechsel zählt zu Taylors Werkzeugen  um sich vor allem mit dem Ende eines Songs noch einmal so richtig heftig ins Herz der Zuhörer innen zu schrauben  In »the last great american dynasty« beschreibt sie das Leben der Rebekah Harkness  »the most shameless woman this town has ever seen«  die in einem Haus auf Rhode Island wilde Partys feierte  nur um uns mit der Bridge des Songs plötzlich an einem anderen Ort abzusetzen  Denn da überrascht Taylor mit »and then it was bought by me«  die Erzählung wechselt von der dritten in die Ich-Perspektive  sie selbst wird zur »loudest woman this town has ever seen«  Ein vielleicht simpler Kniff  der im sorgfältig konstruierten Storytelling von Taylor Swift jedoch immer wieder seine volle Wirkung entfaltet  Sehr wunderbar auch in »The Albatross«  »Clara Bow« oder »Peter«  drei Lieder vom jüngsten Album The  Poets Department  The Anthology  In »Peter« erzählt Taylor die Story von Peter Pan  allerdings aus der Sicht von Wendy  Am Ende sitzt kein kleines Mädchen  sondern eine erwachsene Frau am Fenster und löscht nach Jahren des Wartens endlich ihr Licht   Das große Herzschmerz-Konzeptalbum von Taylor Swift  In  Süddeutsche Zeitung                  Taylor Swift Accepts Songwriter-Artist of the Decade Honor  In  Billboard     (zuletzt abgerufen am )  Übersetzung von AS   (3) Taylor Swift ist mit Emily Dickinson verwandt  In  Frankfurter Allgemeine Zeitung     (zuletzt abgerufen am )   (4) Vgl  Mythological References from Folklore and Evermore   (zuletzt abgerufen am )  Anne Sauer  Look what they made us do © 2024  Rowohlt Taschenbuch Verlag  Hamburg  S   

Sie bringt ihre Fans nicht nur zum Schwärmen; bei ihrem Konzert in Seattle hat die Euphorie sogar ein kleines Erdbeben ausgelöst. Nicht erst seit ihrer Europatour in diesem Jahr zerbricht sich das Feuilleton den Kopf über das »Phänomen Taylor Swift«. Im Buch Look What She Made Us Do kann man sich das von einem echten Fan erklären lassen. Anne Sauer schafft es in ihrem Essay, persönliche Begeisterung mit kenntnisreicher Analyse zu verbinden, und hat damit ein Buch veröffentlicht, das Lust aufs Fan-Sein macht. Das fünfte Kapitel widmet sich den Songtexten – und Swifties wissen vermutlich jetzt schon, dass die Platzierung auf der Fünf kein Zufall ist…

Songwriting – Über das, was Taylor Swift einmalig macht

But if the story’s over – Why am I still writing pages? Taylor Swift – Death By A Thousand Cuts

Bei der Recherche für dieses Kapitel schlägt mir Google folgende Suchanfrage vor: »Are there any Taylor Swift songs that aren’t about love?« Ich muss gleichzeitig schmunzeln und die Augen verdrehen bei der Vorstellung, wie Menschen, vielleicht neugierig, wahrscheinlich genervt und ganz bestimmt ungläubig, das Internet befragen, ob denn »diese Frau« auch noch andere Themen kennt neben der elendigen Gefühlsduselei namens Liebe. Neben der Behauptung, Taylor Swift schreibe ihre Songs »doch niemals selbst«, ist das wahrscheinlich das zweitgrößte Vorurteil, das sie seit Beginn ihrer Karriere verfolgt. Mit vierzehn unterzeichnete sie als bis dahin jüngste Künstlerin im Unternehmen ihren ersten Songwriting-Vertrag mit Sony / ATV Music Publishing. Zwanzig Jahre später hat Taylor Swift mit ihrer Songwriting-Kunst offiziell ihre academic era erreicht. Denn nicht nur verlieh ihr die New York University 2022 einen Ehrendoktortitel der bildenden Künste, auch belegt ihre Lyrik mittlerweile Ehrenplätze in den Stundenplänen mehrerer Unis und Colleges: an der Queen Mary University of London, in Stanford und Harvard sowie auch hier in Europa, etwa im belgischen Gent. Eine Entwicklung, die wir Swifties voller Stolz beobachten, studieren wir ihre Lyrics ja schließlich schon seit Jahren. Sobald ich gefragt werde, was mich an Taylor Swifts Musik so begeistert, öffnet sich in meinem Kopf eine Tür zu einem ganz besonderen Ort: zum riesigen Archiv, das gefüllt ist mit Songtexten, Analysen und Interpretationen, akribisch kategorisiert nach Themen und Emotionen, einsortiert in Register, die ich je nach Bedarf herausziehen kann. Ist dieses Portal einmal geöffnet, verwandele ich mich in einen Swift-Algorithmus, der passend zur gewünschten Stimmung Songs empfiehlt. »Du hast gerade XY erlebt und weißt nicht, wie du dich fühlen sollst? Probier mal diesen Track!« Die Pflege dieses Archivs besteht aus der kollektiven Arbeit aller Swifties, die Stunden über Stunden in Videos, Beiträge und Memes investieren, um der lyrischen Qualität von Taylor Swift die Aufmerksamkeit zu verschaffen, die sie verdient. Und jedes Mal, wenn ein Nicht-Swiftie ein Reaction-Video hochlädt und sich Hals über Kopf in die »überraschend tiefgründigen« Texte von Taylor Swift verliebt, klopft sich irgendwo ein Swiftie heimlich auf die Schulter und denkt: Nice, wieder eine:n bekehrt. Die öffentliche Wahrnehmung hat sich also verändert, und Taylor Swift gilt jetzt auch in akademischen Kreisen als relevante Geschichtenerzählerin. Ich freue mich. Gleichzeitig frage ich mich, wie viel eine Frau schreiben muss, um ernst genommen zu werden? Im April 2024 veröffentlichte Taylor ein Doppelalbum mit insgesamt einunddreißig Songs, The Tortured Poets Department: The Anthology. Alle Lieder davon hat sie entweder selbst oder in Zusammenarbeit geschrieben, so wie die über zweihundert anderen auf ihren vorherigen zehn Alben. Laut einer allgemeinen Pressemeldung der dpa, die von einigen Feuilletons unbearbeitet übernommen wurde, sei damit endlich der »Grundstein für die Karriere einer großen Erzählerin« gelegt.(1) Taylor Swifts Songwriting ist das unverkennbare Herzstück ihres Schaffens, Storytelling der rote Faden, mit dem sie ihre Konzeptkunst webt. Als sie 2022 mit dem Nashville Songwriter-Artist of the Decade Award ausgezeichnet wurde, verriet sie ihre drei persönlichen Genres, in die sie ihre Songs gedanklich einsortiert, basierend auf dem Schreibutensil, das am besten zum jeweiligen Song passe: Quill, Fountain Pen und Glitter Gel Pen. Wenn Taylor Swift Lyrics mit einem imaginären Glitzergelstift schreibt, dann entstehen dabei Songs wie »Shake It Off«, »Karma« oder »ME! (feat. Brendon Urie of Panic! At The Disco)«. Songs, die sich anhören wie die Unterhaltungen auf der Clubtoilette, wenn sich angetrunkene Frauen gegenseitig versichern, wie toll sie sind. Lieder, die wir alle ab und an einfach gut gebrauchen können. In das Füller-Genre fallen die Lyrics, die besonders bildreich sind und uns Zuhörende ins pulsierende Zentrum des Geschehens katapultieren – dorthin, wo es passiert, ob Herzschmerz, pure Freude oder Verlust. Hervorragende Beispiele dafür: »All Too Well«, »You Are In Love«, »Maroon« oder »The Black Dog«. Wenn ihre Texte hingegen »wie ein Brief klingen, den Emily Dickinsons Urgroßmutter beim Nähen einer Spitzengardine geschrieben hat«,(2) dann handelt es sich um einen der sogenannten Quill Lyrics, also vermeintlich geschrieben mit Feder und Tinte. Mit diesem Bild im Kopf klingen die Songs »evermore (feat. Bon Iver)« und »Snow On The Beach (feat. Lana Del Rey)« gleich noch lyrischer. Das Talent für Poesie wurde Taylor Swift offenbar in die Wiege gelegt, laut einer amerikanischen Genealogieseite ist sie sogar eine entfernte Cousine der erwähnten Dickinson.(3) Doch anders als ihre Vorfahrin tippt Taylor, ganz die zeitgenössische Poetin, die sie ist, ihre Texte auf dem Smartphone, wo sie ihre Ideen, Verse und Voicememos sammelt. Dass das Kapitel über Taylors Songwriting an fünfter Stelle im Buch steht, ist übrigens kein Zufall. Denn im Laufe der Jahre haben wir Swifties etwas festgestellt, das am Anfang nicht mal Mastermind Taylor selbst aufgefallen ist: Der fünfte Song des Albums ist immer der, der noch einen Ticken tiefer unter die Haut geht. Track five ist unser Code für »Text, in dem sich Taytay besonders ehrlich, emotional und verletzlich zeigt«. Kündigt sie ein neues Album an, huscht unser Blick sofort zu der Nummer fünf, es ist unsere Art zu fragen: Und, wie geht’s dir wirklich? So wie diese Frage meist nur Menschen stellen, die dich gut kennen, verstehen auch nur diejenigen, die der Karriere und dem Leben von Taylor schon etwas länger folgen, diese Texte auch immer ein bisschen besser. Es ist also nur verständlich, dass wir völlig angemessen ausgerastet sind, als die Tracklist zu The Tortured Poets Department (TTPD) veröffentlicht wurde und uns »So Long, London« auf Platz fünf entgegenblickte. Eine für uns unmissverständliche Referenz auf ihren britischen Ex-Freund Joe Alwyn und damit ein Abschiedsbrief an ihren »London Boy«, die Muse für ihr Lover-Album. Ähnlich wichtig wie der fünfte Song ist auch der jeweils letzte eines Albums. So lässt sich z. B. »Dear Reader« am Ende von Midnights beinahe wie ein Cliffhanger für das Nachfolgealbum TTPD verstehen. Ein Album, dessen erweiterte Edition wiederum abschließt mit »The Manuscript«. Seit ich die musikalische Fortsetzung von Midnights kenne, hat die Zeile »Never take advice from someone who’s falling apart« aus dem Track »Dear Reader« eine besondere Bedeutung für mich. Es ist die Bitte einer Person, die sich zwischen zwei einschneidenden emotionalen Phasen ihres Lebens befindet. In einer Zeit der Ungewissheit, in der eine Beziehung zwar bereits vorbei, aber noch nicht beendet ist. Mit TTPD schließt sie daran an und findet mit selbstreflektierenden Texten Worte für eine Trennung, die sie zwar noch nicht versteht, aber akzeptiert. Sie schließt ab, etwa mit dieser Zeile aus »So Long, London«: »Had a good run / A moment of warm sun / But I’m not the one«. Oder zu guter Letzt in »The Manuscript«: »And at last / She knew what the agony had been for.« Mein sehr persönliches Track-five-Ranking aller Alben: 11. »Cold As You« 10. »Dear John« 9. »White Horse« 8. »my tears ricochet« 7. »All Too Well« 6. »Delicate« 5. »All You Had To Do Was Stay« 4. »tolerate it« 3. »So Long, London« 2. »The Archer« 1. »You’re On Your Own, Kid« Die lobende Erwähnung geht zudem an »How Did It End?«, da es streng genommen der Track five der Erweiterung von The Tortured Poets Department: The Anthology und wirklich auch sehr, sehr gut ist. Reihenfolge und Binnenreferenzen sind nur zwei der Elemente, die Taylor in ihrem Songwriting- und Storytelling-Handwerk perfektioniert hat. Von Album zu Album spinnt sie feine Fäden und beantwortet Fragen, die sie Jahre zuvor aufgeworfen hat. Die Verbindung zwischen »Red« und »Daylight« wäre ein Beispiel dafür, im letztgenannten Song heißt es: »I once believed love would be burning red / But it’s golden«. An dieser Stelle des Textes stehe ich in meinem imaginären Archiv vor dem Fach mit der Aufschrift: »Gebrauch und Bedeutung von Farben in Taylor-Swift-Songs«. Ich lasse es verschlossen, passiere auch das kleinere daneben, »Die Verwendung von GOLD / GOLDEN in Verbindung mit Liebe / J. A.«, und werfe stattdessen einen kurzen Blick in die Schublade mit dem Label »Metaphern &amp; Mythologie«. Von Gedankenspiralen aus Zweifeln und Reue in »coney island (feat. The National)«, die an die zu endlosen Torturen verdonnerten Sündiger in der griechischen Unterwelt erinnern, bis zur subtilen Referenz auf Sisyphos und seine schier unmögliche Aufgabe, eine schwere Last den Berg hinaufzubefördern in »this is me trying«.(4) Ich werde das Gefühl nicht los, dass Taytays Herz für tragische Held:innengeschichten schlägt. In der Ballade »champagne problems« beschreibt das Ich »your Midas touch on the Chevy door«, was die in Mythologie geschulten Hörer:innen mit dem gierigen König Midas und seiner alles in Gold verwandelnden Berührung in Verbindung bringen. Im gleichen Song nutzt Taylor die Metapher »She’ll patch up your tapestry that I shred«: der Wunsch einer Frau, die den Heiratsantrag ihres Freundes ablehnt und ihm für die Zukunft eine Partnerin wünscht, die besser zu ihm passt – die also den Wandteppich flickt, den sie zuvor zerstört hat. Möglicherweise ein direkter Bezug auf Penelope, die Frau von Odysseus, auf dessen Rückkehr aus Troja sie vergeblich wartet. Sie lässt sich auf den Deal mit ihrem drängenden Vater ein, neu verheiratet zu werden. Ihre Bedingung: zuerst die Arbeit an einem Wandteppich zu beenden. Doch während sie tagsüber eifrig webt, löst sie nachts die Fäden, zerstört den Teppich, der so niemals fertig wird. Ein bewusstes Hinhalten also trotz einer zuvor getroffenen Abmachung – und damit auch eine Parallele zu Taylors lyrischem Ich, das nach langem innerem Ringen nicht bereit ist, ihren Liebhaber zu heiraten. Auch mit ihrem Song »Cassandra« greift Taylor auf eine Figur der Mythologie zurück. Cassandra besitzt die Gabe, die Zukunft vorherzusagen, doch der Fluch des zornigen Apollon verhindert, dass ihr geglaubt wird. Stattdessen wird sie für verrückt erklärt; ein Zustand, den Taylor nur zu gut kennt und mit den Worten »they filled my cell with snakes, I regret to say / Do you believe me now?« besingt. Eine hilfreiche Liste, um sich ganz gepflegt das Selbstvertrauen stärken zu lassen: »You Need To Calm Down« »I Did Something Bad« »Blank Space« »I Can See You (Taylor’s Version) (From The Vault)« »imgonnagetyouback« »New Romantics« »This Is Why We Can’t Have Nice Things« »Bejeweled« »I Can Do It With a Broken Heart« »We Are Never Ever Getting Back Together« »Bad Blood (feat. Kendrick Lamar)« »Look What You Made Me Do« »Karma« Auch der Perspektivwechsel zählt zu Taylors Werkzeugen, um sich vor allem mit dem Ende eines Songs noch einmal so richtig heftig ins Herz der Zuhörer:innen zu schrauben. In »the last great american dynasty« beschreibt sie das Leben der Rebekah Harkness, »the most shameless woman this town has ever seen«, die in einem Haus auf Rhode Island wilde Partys feierte, nur um uns mit der Bridge des Songs plötzlich an einem anderen Ort abzusetzen. Denn da überrascht Taylor mit »and then it was bought by me«, die Erzählung wechselt von der dritten in die Ich-Perspektive, sie selbst wird zur »loudest woman this town has ever seen«. Ein vielleicht simpler Kniff, der im sorgfältig konstruierten Storytelling von Taylor Swift jedoch immer wieder seine volle Wirkung entfaltet. Sehr wunderbar auch in »The Albatross«, »Clara Bow« oder »Peter«, drei Lieder vom jüngsten Album The Tortured Poets Department: The Anthology. In »Peter« erzählt Taylor die Story von Peter Pan, allerdings aus der Sicht von Wendy. Am Ende sitzt kein kleines Mädchen, sondern eine erwachsene Frau am Fenster und löscht nach Jahren des Wartens endlich ihr Licht.

(1) Lisa Forster [für die dpa]: Das große Herzschmerz-Konzeptalbum von Taylor Swift. In: Süddeutsche Zeitung, 19.04.2024, <a href="https://www.sueddeutsche.de/kultur/the-tortured-poets-departmentdas-grosse-herzschmerz-konzeptalbum-von-taylor-swift-dpa.urnnewsml-dpa-com-20090101" rel="noopener noreferrer">https://www.sueddeutsche.de/kultur/the-tortured-poets-departmentdas-grosse-herzschmerz-konzeptalbum-von-taylor-swift-dpa.urnnewsml-dpa-com-20090101</a> – 240419 – 99 – 732416 (zuletzt abgerufen am 10.05.2024). (2) Jessica Nicholson: Taylor Swift Accepts Songwriter-Artist of the Decade Honor. In: Billboard, 21.09.2022, <a href="https://www.billboard.com/music/country/taylor-swift-nashville-songwriter-awards-fullspeech-1235142144/" rel="noopener noreferrer">https://www.billboard.com/music/country/taylor-swift-nashville-songwriter-awards-fullspeech-1235142144/</a> (zuletzt abgerufen am 02.05.2024). Übersetzung von AS. (3) Taylor Swift ist mit Emily Dickinson verwandt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.03.2024, <a href="https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/taylor-swift-ist-mit-emily-dickinson-verwandt-19564886.html" rel="noopener noreferrer">https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/taylor-swift-ist-mit-emily-dickinson-verwandt-19564886.html</a> (zuletzt abgerufen am 02.05.2024). (4) Vgl. Mythological References from Folklore and Evermore, <a href="https://folklorevermoremythology.tumblr.com" rel="noopener noreferrer">https://folklorevermoremythology.tumblr.com</a> (zuletzt abgerufen am 02.05.2024).

Anne Sauer ist freie Texterin, Podcasterin und Moderatorin in Hamburg. Geboren wurde sie, wie Taylor Swift, 1989, studierte Buchwissenschaft und Philosophie und absolvierte die Hamburg School of Ideas. Sie ist Teil von Literaturjurys, empfiehlt mit Tina Lurz Bücher im Podcast MONATSLESE oder als @fuxbooks auf Instagram. 2022 gewann sie für ihre Arbeit den Börsenblatt Young Excellence Award. Sie möchte nicht gefragt werden, welches Album von Taylor Swift ihr liebstes ist – aber antworten würde sie vermutlich mit reputation. Zuletzt erschienen ist von ihr: Look What She Made Us Do. Über Taylor Swift (2024).

Anne Sauer

Look what they made us do

Karl May kommt am 25  Februar 1842 in Ernstthal zur Welt  Er ist das fünfte von vierzehn Kindern  Seine Geschwister nähen Handschuhe und betteln um Kartoffelschalen  Die Eltern sind Weber    Einer Infektionskrankheit wegen will May die ersten vier Jahre seines Lebens blind gewesen sein  Als er die Augen öffnet  sieht er  Atlanten  Rechenfibeln  Gebetsbücher  Er lernt sie auswendig  Der Vater fragt ihn ab  Er will  dass sein Sohn eine Zukunft hat  Karl soll Lehrer werden  Im Waldenburger Seminar stiehlt er sechs Kerzen  Er brauchte Licht zum Lernen  Verwarnung  dann Diplom  Ab 1861 ist er Fabrikschullehrer  Die Spinnereien heißen Clauß und Solbrig  Sein Mitbewohner leiht ihm die Taschenuhr  außerdem Pfeife und Zigarrenspitze  Und gibt an  May habe sie gestohlen  Entzug der Lehrbefugnis  1864 beginnt die Illegalität  Ein Jahr verbringt er auf der Flucht und sieben im Gefängnis  Mit Unterbrechungen  während derer er sich als Arzt ausgibt und als Pelzhändler  Als Polizist konfisziert er angebliches Falschgeld  Er behauptet  eine Kaffeeplantage in der Karibik zu besitzen    Später sagt er  Ich vernahm unausgesetzt den inneren Befehl  an der menschlichen Gesellschaft Rache zu nehmen  und zwar dadurch Rache  daß ich mich an ihren Gesetzen vergriff    Im Gefängnis beginnt May zu schreiben  Kalendersprüche erst  dann Kurzgeschichten  Unter Pseudonym  Die Leute lieben das Zeug  Er schreibt  als ginge es um sein Leben  weil  Das tuts ja auch  Als er wieder draußen ist  erscheinen erste Romane  die Titel tragen wie Deutsche Herzen   deutsche Helden oder Die Verfolgung rund um die Erde  Der Autor bleibt ein anderer  Er rettet sich  indem er weiterlügt    Endlich beginnt er  von denen zu erzählen  die ihn berühmt machen werden  Mittlerweile kriegt er Fanpost  Einer neugierigen Leserin antwortet er  Sehr geehrtes Fräulein! Winnetou war geboren 1840 und wurde  am 2 /9  1874  Er war noch herrlicher  als ich ihn beschreiben kann! Herzlichen Gruß! Dr  Karl May  Einen Doktortitel hat er nie erworben  Es folgen Jahrzehnte des Ruhms  mit astronomisch hohen Auflagen  Bis irgendwann Zweifel am Wahrheitsgehalt seiner Geschichten öffentlich werden  Ab 1901 wird sein Frühwerk neu aufgelegt   gegen seinen Willen und unter Klarnamen  1903 Scheidung von Emma und Heirat mit Klara  1904 macht der Journalist Rudolf Lebius Mays Vorstrafen publik    Die Angst  da zu landen  wo man einmal war  aber nie WIRKLICH gewesen ist  weil das Wirkliche das ist  was genauso gut hätte passieren können  eine Möglichkeit unter vielen   Man versucht ihn der Lüge zu überführen  doch May bleibt dabei  Das ist alles mehr als wahr  Das ist IHM geschehen  ER ist das  Er ist Kara Ben Nemsi  der Old Shatterhand ist  also  der Held     Und ich denk an Anna Delvey  die eigentlich Sorokin heißt  An Anna  die sich als Erbin ausgibt  als Trustfundbaby  das leider  leider noch nicht rankommt an die Kohle  die   ehrlich wahr  versprochen   auf einem Schweizer Konto vor sich hingammelt  Anna  die Urkundenfälscherin  die sich Geld von reichen Freunden leiht  um zu tun  was Reiche eben tun  eine Kunststiftung gründen  Selbst als Schecks geplatzt  Ermittlungen aufgenommen sind  gibt sie nicht auf  Die zuerst im russischen Domodedowo und dann bei Aachen Aufgewachsene  deren Missetaten kürzlich verfilmt wurden  ging nach Haftende gleich wieder in den Knast  und zwar freiwillig  in den amerikanischen Abschiebeknast  weil alles besser ist als NRW  das Kriegsgebiet ihrer Seele  das sie niemals wiedersehen wollte  in dem sie  wie sie sich sieht  ja ohnehin nie WIRKLICH existiert hat  Sich an den sprichwörtlichen boot straps  am Münchhausen'schen Zopf aus dem Schmutz ziehen   das war die Idee   Und ich denk an Xatar  den Rapper  Sein Debütalbum ist draußen  nur er sitzt noch im Knast  auf derselben Bettdecke  unter der er seine Tracks aufgenommen hat  Und der Goldraub? Ein Taschenspielertrick in Uniform  wenn man dem Drehbuch folgt  denn auch sein Leben  wie es war oder hätte sein können  ist mittlerweile verfilmt  Popkornknistern und Gelächter im Kino  das nach der roten Festung heißt  Cineplex Alhambra  Ich schau die Jugendlichen an  die mit mir Rheingold schauen  Und denke  klar  an mich   Ich bin siebzehn Jahre alt und überzeugt  dass meine Geschichte wahr werden wird  Ich weiß nur noch nicht WIE  Auf der Suche nach einem Hinweis les ich die Zeitung  Und find Helene Hegemann  die ein Jahr älter ist als ich  die das alles gar nicht selbst erlebt hat  den Exzess  das Heroin  wie unverschämt  Sie schaut mich an vom Recyclingpapier  der helle Vorhang ihres Haars  und sie dahinter  auf der anderen Seite  Auf dieser hier schütten erwachsene Männer Grausamkeiten aus gegen sie  Eine schmutzige Flutwelle  die von Berlin bis Gelsenkirchen schwappt  Vorsichtig berühr ich meinen Pony  Oder ihren  Und ich versteh  Was dir hilft  das  dich  Es gibt Erwartungen  Wenn du nicht echt genug bist  dich nicht anständig zu Markte trägst   dann hagelts Konsequenzen  Und darum gehts hier ja  ums Wirklichwahre  den überfallenen Transporter  die frisierten Kontoauszüge  die eigenhändig geretteten Apachen     Hallo? Wer ist da?   Bist du es  Noah? Ich war es  Utnapischti? Ich war es     Wassili hat Donuts mitgebracht  Geheimtipp vom Hamburger Stadtrand  Er ist süchtig nach diesen Lokalfernsehclips  in denen man sowas erfährt  Moin-Moin-Content sagt er dazu  Auch auf diese Reise hat er sich mithilfe des NDR vorbereitet  Wir fahren nach Bad Segeberg  Die Karten hast du schon vor Monaten gekauft   Mit vollen Mündern versuchen wir Wassili den Diskurs zu erklären  Ravensburger hat sich entschieden  das Merchandise zu Der junge Häuptling Winnetou noch vor Kinostart zurückzuziehen  Presseschau des nationalen Notstands  Darf man May noch lesen? Schöne Kindheitserinnerung oder Kolonialismusapologie? Markus Söder und Sigmar Gabriel lassen sich ihren Helden nicht schlechtreden  Die Bild-Zeitung befragt ein paar Hinterbänkler  Wir brauchen den Winnetou-Gipfel im Kanzleramt  Mittlerweile sind wir in Schleswig-Holstein und in Rage  Krümel fliegen durchs Abteil  Ein Mann prüft den Reißverschluss  der seine Trekkinghose jederzeit in eine Bermuda verwandeln kann  »Der Film«  schmatzt du  »hat doch sowieso das übelste Glaubwürdigkeitsproblem   Old Shatterhand ist längst erwachsen  als er nach Amerika geht  Wie soll er Winnetou als Kind schon kennen?« Ob wir schon gehört haben  fragt Wassili  Bald kommt Das Kanu des Manitu  Jahrzehnte nach dem Schuh  Die debile Mischung zwischen Ich-nix-deutsch und Gendergaga prickelt mir schon am Gaumen wie der Beginn eines schlechten Trips  Ich suche den wolkenlosen Himmel ab  als hätte ich etwas verloren  Die norddeutsche Trostlosigkeit weckt erfolgreich verdrängte Erinnerungen  Mein Vater und ich in der Imbissbude  Er flüstert mit dem Besitzer  Ich bekomme eine Fanta zum Döner  und im Bilderrahmen rauscht stumm der Wasserfall  Roter Klinker  asbestverseuchte Schulen  Verlassene Mehrzweckhallen in der Nähe ehemaliger Konzentrationslager  Wassili ist in der Zwischenzeit von seinem Lieblingsmarktstand  der diese übertrieben teuren  japanischen Pilze hat  über die Besitzverhältnisse in der Hafen City und die Marketingstrategien von Vape-Herstellern auf das  gekommen  an das er sich  anders als ich  noch erinnert  Die  gescheiterter  in den Gemeinschaftsduschen  Die strikt getrennten Trakte  in denen traditionell verfeindete Völker untergebracht waren  Wer den Sicherheitsmännern wohl die ethnographische Konfliktschulung erteilt hat? Das Rütteln am Türknauf  nachts  Der Geruch von Strom  Das sanfte Schaukeln und die Wettrennen  die die Horde Kinder auf den feuchten Fluren des Schiffes veranstaltete  »Krass«  sagst du  und ich schließe die Augen und versuche  mich zu erinnern  wie es war  als ich ein Säugling war   Bestimmt schminkt die Maskenbildnerin gerade Alexander Klaws  Und Katy Karrenbauer geht nochmal die Choreo durch  Zur selben Zeit schlängeln wir uns an Rentnern und Kindern  Schwangeren und bekifften Teenagern vorbei  Das Amphitheater blickt auf den Kalkberg  den der Segeberger Verschönerungsverein einst mit Bäumen bepflanzte  die aussehen  als hätte der Fels sie aus sich herausgedrückt wie Pickel  Wassili erzählt uns  dass hier einmal Gips abgebaut wurde  Der Tagebau hinterließ eine Leere  in der später völkisches Partizipationstheater stattfand  zumindest so lange  bis die  drauf kamen  dass das völlig nutzlos war  Die Deutschen gingen lieber ins Kino  »Deswegen«  schließt Wassili  »gibt es in diesem Kaff überhaupt so eine große Bühne «  Die Show beginnt  ARE YOU READY TO PARTY? Das Country Roads-Cover läuft vom Band  Dann  Schuss  Explosion  Feuer  Bewaffnete Banditen stürmen die Bühne  Es geht um alte Feindschaft  Öl und Verrat  Aber wie immer bei May verliere ich den Faden  Zu viele Nebenhandlungen  zu viel Ereignis  Das Publikum ist on fire  Du klatschst mit  Als ich wieder hochgucke  sehe ich  wie die Bäume auf dem Kalkberg leicht zittern  Wind kommt auf  Ganz weit am Horizont erblicke ich eine kleine Wolke  Fast legt sie sich über die Sonne  Und Katy beginnt zu tanzen  Sie führt eine Gruppe deutscher Auswanderer an  Ich erinnere mich an die Stunden  die meine Geschwister und ich mit Hinter Gittern verbracht haben  Zur Einstimmung erst Unter Uns  dann GZSZ  was sonst  und  endlich  Hinter Gittern   Der Frauenknast  Katy war Walter  Bankräuberin und   Mit brennenden Augen saßen wir vorm Fernseher  bis meine Mutter meiner ältesten Schwester pünktlich um 22 Uhr 15 die Fernbedienung aus der Hand riss und ihre brasilianische Telenovela einschaltete  Noch im Bett dachte ich über sie nach   die ernste  verlässliche  gerechte  beizeiten cholerische Walter  Königin der Station B  aus der sie immer wieder ausbricht  in die sie immer wieder zurückkehrt   May übers Gefängnis  Da war zunächst ich selbst  nämlich ich  der ich das Alles beobachtete  Aber wer dieses Ich eigentlich war und wo es steckte  das vermochte ich nicht zu sagen   Der nächste Schuss knallt  Hinter falschen Kakteen taucht eine einzelne Feder auf  Die Kapitalisten merken noch nichts  Katy rafft ihre Röcke und purzelt in den Planwagen  Wassili tippt eine Notiz ins Telefon     Und ich denk an Jean Genet  den Dieb und Dichter  Mit zehn Jahren wird er zum ersten Mal erwischt  Strafkolonie  dann   Schließlich wird er Polizeispitzel  Dreißigjährig droht ihm Verwahrung auf Lebenszeit  Im Gefängnis beginnt er  auf sein Urteil wartend  zu schreiben  Von Anfang an erhält Genet die Anerkennung  die May bis zum Schluss verwehrt bleibt  Sartre und Picasso bemühen sich um die Veröffentlichung seiner Texte  Er wird begnadigt   das Genie darf in Freiheit schreiben     In Mays Werken fehlt alles  was stört  Frauen  Staaten  Lohnarbeit  Trotzdem verletzt er sie nicht  die bürgerliche Ordnung  er entwirft bloß einen Raum  der ohne sie auskommt  Der Wilde Westen als Ausnahme  die die Regel bestätigt  Die sie überhaupt erst legitimiert  dort  wo sie herrscht  Also auch in seinem Leben    Ein oppositioneller Bürger  der kein Bürger sein darf  heißt es von Genet     Ich mal die Welt an meine Zellenwand  Ich mal und übermal sie tausendmal  Und jetzt   jetzt fließt der Euphrat durch die Börde  Und das Mittelgebirge meiner Kindheit wird zum Rückgrat Amerikas  Ich erreich  NEIN  Ich erschreib mein Reich  Ich setz ein Wort aufs Papier  und es fällt mir leicht    Ich les den Atlas  als wär er ein Orakel  Das Buch der Wandlungen vielleicht  weil  weil   auch diese Grenzen wandeln sich  Schlag den Atlas auf  und wo dein Finger liegt  da fließts  NEIN  Schlag den Atlas auf und lies  was in Zukunft geschieht  und vor allen Dingen   WO!    In Riesa taucht die Elbe auf    Du hast diese Kamera dabei  mit der du später  wenn auch zögerlich  die Schrumpfköpfe fotografieren wirst  die in meiner Erinnerung an einer Schnur hängen  wie Knoblauch zum Trocknen    Wir also in Mays Haus  Erwartbares Interieur  Perserteppiche und poliertes Holz und Trachten  die an die Wand gepinnt sind  als seien ihre am Schlafittchen gepackten Träger aus dem Stoff geschlüpft  als sei nur die Hülle des so Fixierten übriggeblieben  und so ist es ja auch  May  der was völlig andres in die Hülle füllt  konditormäßig mit der Spritztüte reindrückt  und so wird Winnetou zwangsläufig Zuckerwerk  und später dann steigt Uschi Glas in die Kleider des sogenannten Halbbluts Apanatschi  von dem May niemals schrieb    Der verwirrende Weinbauwohlstand Radebeuls  Im Museum und in den Gasthäusern sind wir Touristen  auf der Straße aber fühlen wir uns beobachtet  Wir haben beide noch nie in der Provinz gewohnt    Wobei   Einmal verbrachte ich ein halbes Jahr in Bamberg  Ich wurde krank dort  Ich verließ das Haus nicht mehr  Ich stellte meinen Tisch vor die angelehnte Terrassentür  Die Zigarettenhand nach draußen haltend  saß ich da und schaute auf die Regnitz  an deren anderem Ufer eine Informationstafel darüber aufklärte  wer in diesem Häuschen wohnte  ich nämlich  Manchmal winkten Touristengruppen in bunter Regenkleidung  und ich winkte kraftlos zurück  Bamberg drohte zu platzen  Väter aus Wisconsin aßen Schäufela und tranken nach Schinken duftendes Rauchbier und erzählten ihren Kindern  wie es war  als sie hier stationiert waren  Wo sie sich mit Einheimischen gebengelt hatten  wo der Weg zur Kaserne verlief  auf welchem vereisten Pflasterstein sie einmal besoffen ausgerutscht waren  Ausgerechnet hier  wo die Welt sich also Deutschland  Old Europe gar  imaginiert  wie es niemals war  ausgerechnet hier saß einmal der Karl-May-Verlag  bis er nach der Wende nach Radebeul zurückzog   Das Bamberger May-Museum wurde fünf Jahre lang von Silkirtis Nichols geleitet  einem Schwarzen Cherokee-Choctaw aus Denver  der mit seiner Frau Liselotte hauptberuflich im  unterwegs war  Der 1923 geborene Nichols war  glaubt man Lokalzeitungsberichten  froh  sich in Deutschland mit seiner Kultur auseinandersetzen zu können  Zumindest hat er in seinem langen Leben nie Gegenteiliges behauptet   eingezogen  diente Nichols noch lange nach  in der amerikanischen Armee  So kam er nach Deutschland   vor der großen Läuterung  Währenddessen galt in den USA noch das juristische Dogma der Rassensegregation   Jahrhundertelang hatten auch Indigene mit Versklavten gehandelt  Die Cherokee und die Choctaw  die Chickasaw  Muscogee und die Seminolen kämpften im  sogar auf der Seite der   nicht zuletzt  weil ihnen ein eigener Staat versprochen wurde  den sie nicht bekamen  Nach der Abschaffung der  verfügte die amerikanische Regierung  die Freedmen sollten gleichberechtigte Mitglieder ihrer Völker werden  Die Chickasaw und die Choctaw weigerten sich  Einige Freedmen blieben trotzdem im Reservat  andere gingen in den Norden  Dann beschloss Washington die Privatisierung indigenen Lands  Dort  wo die fünf Völker zuletzt lebten  wohin sie vertrieben worden waren  entstand so der Bundesstaat Oklahoma   Kurz darauf sieht Franz Kafka das Foto eines Mannes  der ebenda  wurde  in Oklahama  wie es unter dem Bild heißt  und irgendwie sickert diese fremde Gewaltgeschichte in diejenige  deren Teil auch Kafka selbst ist  und zwar doppelt  vom selben Standpunkt in zwei Richtungen blickend  Und wenn sein Held Karl Roßmann sich später zum Schwarzen erklärt  dann ist das idiotisch  aber eben auch Ausdruck jener Affinität  die der Teenager Kafka spürt  als er das Buch höher hält  ins Gelb der Lampe  die das elterliche Wohnzimmer erleuchtet an diesem regnerischen Prager Nachmittag  Das also  denkt Kafka  geschieht in Oklahama  aber es geschieht auch östlich von Prag  Er ist siebzehn Jahre alt  und er weiß noch nicht  oder doch  irgendwie weiß er es schon  dass er Karl Roßmann in ein anderes Oklahama schicken wird  das sich von dem Ort aus dem Buch unterscheidet  Es meint Hoffnung  Es meint den Glauben daran  dass Bezeichneter und Bezeichner eins werden können   In der jungen BRD jedenfalls wäre es peinlich gewesen  Nichols' Herkunft genauer prüfen zu wollen  Diejenigen  die ihn als Museumsdirektor einsetzten  hatten ja noch ihre Ahnenpässe auf dem Dachboden  hatten selbst noch die Stammbäume ihrer Familien ins DIN-A4-Heft gezeichnet  Darin lag auch der Reiz Apanatschis  Ein Halbblut sein  das war gerade erst verboten gewesen  und jetzt  da ging es wieder  irgendwie  Nichols' Biografie hat ihn  Jahrzehnte bevor das Wort woke eine neue Bedeutung bekam  zur Museumsleitung qualifiziert  Die fränkischen May-Enthusiasten waren dringend angewiesen auf den Aderlass des Echten      Im düstern Auge keine Träne  Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne  Deutschland  wir weben dein Leichentuch  Wir weben hinein den dreifachen Fluch   Wir weben  wir weben!    Einmal reichte eine gewaltige Gletscherzunge bis tief hinab in das  was heute der Osten Deutschlands ist  Und die Elbe lag darunter verborgen  oder sie hat sich daraus hervorgeschält  Dieser Gletscherzunge wegen entwickelte sich die Krähenpopulation östlich und westlich der Elbe anders  Die Ost-Krähen haben graues Gefieder mit schwarzen Flügeln  die West-Krähen aber ganz schwarzes  Tiere  die aus der Verbindung zwischen Ost- und West-Krähen entstehen  haben als  schlechtere Fortpflanzungschancen    Das   das Illegitime  das Enterbte  Das Zwittrige  das Unklare  das eigentlich nicht Erwünschte  das aber trotzdem da ist  das nicht weggeht  der Schmutz  der Trash  den selbst die verleugnen  die ihn lieben  Karl May  straight aus der Gosse  Enis Maci und Mazlum Nergiz  Karl May  © Suhrkamp Verlag  2024 Berlin  S 13-32   Mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags  Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin AG  

Karl May – Kleinkrimineller, Hochstapler, Deutschlands erfolgreichster Schriftsteller. Millionen sind mit Winnetou und Old Shatterhand aufgewachsen. Enis Maci und Mazlum Nergiz nicht. In Karl May gehen sie der Sache auf den Grund: Was hat es mit dem Lügen und dem Überleben auf sich? Was trennt den Fake von seinem Vorbild? Und wann steht sie endlich, die Autobahn vom wilden Kurdistan bis ins Land der Skipetaren?Der untenstehende Auszug führt die Erzählenden unter anderem zum großen Schauspiel nach Bad Segeberg und in Mays altes Haus – im Versuch, dem fragwürdigen Hype um den Winnetou-Kosmos näherzukommen.

Karl May kommt am 25. Februar 1842 in Ernstthal zur Welt. Er ist das fünfte von vierzehn Kindern. Seine Geschwister nähen Handschuhe und betteln um Kartoffelschalen. Die Eltern sind Weber.  Einer Infektionskrankheit wegen will May die ersten vier Jahre seines Lebens blind gewesen sein. Als er die Augen öffnet, sieht er: Atlanten. Rechenfibeln. Gebetsbücher. Er lernt sie auswendig. Der Vater fragt ihn ab. Er will, dass sein Sohn eine Zukunft hat. Karl soll Lehrer werden. Im Waldenburger Seminar stiehlt er sechs Kerzen. Er brauchte Licht zum Lernen. Verwarnung, dann Diplom. Ab 1861 ist er Fabrikschullehrer. Die Spinnereien heißen Clauß und Solbrig. Sein Mitbewohner leiht ihm die Taschenuhr, außerdem Pfeife und Zigarrenspitze. Und gibt an, May habe sie gestohlen. Entzug der Lehrbefugnis. 1864 beginnt die Illegalität. Ein Jahr verbringt er auf der Flucht und sieben im Gefängnis. Mit Unterbrechungen, während derer er sich als Arzt ausgibt und als Pelzhändler. Als Polizist konfisziert er angebliches Falschgeld. Er behauptet, eine Kaffeeplantage in der Karibik zu besitzen.  Später sagt er: Ich vernahm unausgesetzt den inneren Befehl, an der menschlichen Gesellschaft Rache zu nehmen, und zwar dadurch Rache, daß ich mich an ihren Gesetzen vergriff.  Im Gefängnis beginnt May zu schreiben. Kalendersprüche erst, dann Kurzgeschichten. Unter Pseudonym. Die Leute lieben das Zeug. Er schreibt, als ginge es um sein Leben, weil: Das tuts ja auch. Als er wieder draußen ist, erscheinen erste Romane, die Titel tragen wie Deutsche Herzen – deutsche Helden oder Die Verfolgung rund um die Erde. Der Autor bleibt ein anderer. Er rettet sich, indem er weiterlügt.  Endlich beginnt er, von denen zu erzählen, die ihn berühmt machen werden. Mittlerweile kriegt er Fanpost. Einer neugierigen Leserin antwortet er: Sehr geehrtes Fräulein! Winnetou war geboren 1840 und wurde erschossen am 2./9. 1874. Er war noch herrlicher, als ich ihn beschreiben kann! Herzlichen Gruß! Dr. Karl May. Einen Doktortitel hat er nie erworben. Es folgen Jahrzehnte des Ruhms, mit astronomisch hohen Auflagen. Bis irgendwann Zweifel am Wahrheitsgehalt seiner Geschichten öffentlich werden. Ab 1901 wird sein Frühwerk neu aufgelegt – gegen seinen Willen und unter Klarnamen. 1903 Scheidung von Emma und Heirat mit Klara. 1904 macht der Journalist Rudolf Lebius Mays Vorstrafen publik.  Die Angst, da zu landen, wo man einmal war, aber nie WIRKLICH gewesen ist, weil das Wirkliche das ist, was genauso gut hätte passieren können: eine Möglichkeit unter vielen. Man versucht ihn der Lüge zu überführen, doch May bleibt dabei: Das ist alles mehr als wahr. Das ist IHM geschehen. ER ist das. Er ist Kara Ben Nemsi, der Old Shatterhand ist, also: der Held. Und ich denk an Anna Delvey, die eigentlich Sorokin heißt. An Anna, die sich als Erbin ausgibt, als Trustfundbaby, das leider, leider noch nicht rankommt an die Kohle, die – ehrlich wahr, versprochen – auf einem Schweizer Konto vor sich hingammelt. Anna, die Urkundenfälscherin, die sich Geld von reichen Freunden leiht, um zu tun, was Reiche eben tun: eine Kunststiftung gründen. Selbst als Schecks geplatzt, Ermittlungen aufgenommen sind, gibt sie nicht auf. Die zuerst im russischen Domodedowo und dann bei Aachen Aufgewachsene, deren Missetaten kürzlich verfilmt wurden, ging nach Haftende gleich wieder in den Knast, und zwar freiwillig, in den amerikanischen Abschiebeknast, weil alles besser ist als NRW, das Kriegsgebiet ihrer Seele, das sie niemals wiedersehen wollte, in dem sie, wie sie sich sieht, ja ohnehin nie WIRKLICH existiert hat. Sich an den sprichwörtlichen boot straps, am Münchhausen'schen Zopf aus dem Schmutz ziehen – das war die Idee. Und ich denk an Xatar, den Rapper. Sein Debütalbum ist draußen, nur er sitzt noch im Knast, auf derselben Bettdecke, unter der er seine Tracks aufgenommen hat. Und der Goldraub? Ein Taschenspielertrick in Uniform, wenn man dem Drehbuch folgt, denn auch sein Leben, wie es war oder hätte sein können, ist mittlerweile verfilmt. Popkornknistern und Gelächter im Kino, das nach der roten Festung heißt: Cineplex Alhambra. Ich schau die Jugendlichen an, die mit mir Rheingold schauen. Und denke, klar, an mich. Ich bin siebzehn Jahre alt und überzeugt, dass meine Geschichte wahr werden wird. Ich weiß nur noch nicht WIE. Auf der Suche nach einem Hinweis les ich die Zeitung. Und find Helene Hegemann, die ein Jahr älter ist als ich, die das alles gar nicht selbst erlebt hat, den Exzess, das Heroin, wie unverschämt. Sie schaut mich an vom Recyclingpapier, der helle Vorhang ihres Haars, und sie dahinter, auf der anderen Seite. Auf dieser hier schütten erwachsene Männer Grausamkeiten aus gegen sie. Eine schmutzige Flutwelle, die von Berlin bis Gelsenkirchen schwappt. Vorsichtig berühr ich meinen Pony. Oder ihren. Und ich versteh: Was dir hilft, das fickt dich. Es gibt Erwartungen. Wenn du nicht echt genug bist, dich nicht anständig zu Markte trägst – dann hagelts Konsequenzen. Und darum gehts hier ja, ums Wirklichwahre: den überfallenen Transporter, die frisierten Kontoauszüge, die eigenhändig geretteten Apachen. Hallo? Wer ist da?  Bist du es, Noah? Ich war es. Utnapischti? Ich war es. Wassili hat Donuts mitgebracht, Geheimtipp vom Hamburger Stadtrand. Er ist süchtig nach diesen Lokalfernsehclips, in denen man sowas erfährt. Moin-Moin-Content sagt er dazu. Auch auf diese Reise hat er sich mithilfe des NDR vorbereitet. Wir fahren nach Bad Segeberg. Die Karten hast du schon vor Monaten gekauft. Mit vollen Mündern versuchen wir Wassili den Diskurs zu erklären. Ravensburger hat sich entschieden, das Merchandise zu Der junge Häuptling Winnetou noch vor Kinostart zurückzuziehen. Presseschau des nationalen Notstands: Darf man May noch lesen? Schöne Kindheitserinnerung oder Kolonialismusapologie? Markus Söder und Sigmar Gabriel lassen sich ihren Helden nicht schlechtreden. Die Bild-Zeitung befragt ein paar Hinterbänkler. Wir brauchen den Winnetou-Gipfel im Kanzleramt. Mittlerweile sind wir in Schleswig-Holstein und in Rage. Krümel fliegen durchs Abteil. Ein Mann prüft den Reißverschluss, der seine Trekkinghose jederzeit in eine Bermuda verwandeln kann. »Der Film«, schmatzt du, »hat doch sowieso das übelste Glaubwürdigkeitsproblem – Old Shatterhand ist längst erwachsen, als er nach Amerika geht. Wie soll er Winnetou als Kind schon kennen?« Ob wir schon gehört haben, fragt Wassili. Bald kommt Das Kanu des Manitu. Jahrzehnte nach dem Schuh. Die debile Mischung zwischen Ich-nix-deutsch und Gendergaga prickelt mir schon am Gaumen wie der Beginn eines schlechten Trips. Ich suche den wolkenlosen Himmel ab, als hätte ich etwas verloren. Die norddeutsche Trostlosigkeit weckt erfolgreich verdrängte Erinnerungen. Mein Vater und ich in der Imbissbude. Er flüstert mit dem Besitzer. Ich bekomme eine Fanta zum Döner, und im Bilderrahmen rauscht stumm der Wasserfall. Roter Klinker, asbestverseuchte Schulen. Verlassene Mehrzweckhallen in der Nähe ehemaliger Konzentrationslager. Wassili ist in der Zwischenzeit von seinem Lieblingsmarktstand, der diese übertrieben teuren, japanischen Pilze hat, über die Besitzverhältnisse in der Hafen City und die Marketingstrategien von Vape-Herstellern auf das Flüchtlingsschiff gekommen, an das er sich, anders als ich, noch erinnert. Die Blutspritzer gescheiterter Selbstmordversuche in den Gemeinschaftsduschen. Die strikt getrennten Trakte, in denen traditionell verfeindete Völker untergebracht waren. Wer den Sicherheitsmännern wohl die ethnographische Konfliktschulung erteilt hat? Das Rütteln am Türknauf, nachts. Der Geruch von Strom. Das sanfte Schaukeln und die Wettrennen, die die Horde Kinder auf den feuchten Fluren des Schiffes veranstaltete. »Krass«, sagst du, und ich schließe die Augen und versuche, mich zu erinnern, wie es war, als ich ein Säugling war. Bestimmt schminkt die Maskenbildnerin gerade Alexander Klaws. Und Katy Karrenbauer geht nochmal die Choreo durch. Zur selben Zeit schlängeln wir uns an Rentnern und Kindern, Schwangeren und bekifften Teenagern vorbei. Das Amphitheater blickt auf den Kalkberg, den der Segeberger Verschönerungsverein einst mit Bäumen bepflanzte, die aussehen, als hätte der Fels sie aus sich herausgedrückt wie Pickel. Wassili erzählt uns, dass hier einmal Gips abgebaut wurde. Der Tagebau hinterließ eine Leere, in der später völkisches Partizipationstheater stattfand, zumindest so lange, bis die Nazis drauf kamen, dass das völlig nutzlos war. Die Deutschen gingen lieber ins Kino. »Deswegen«, schließt Wassili, »gibt es in diesem Kaff überhaupt so eine große Bühne.« Die Show beginnt. ARE YOU READY TO PARTY? Das Country Roads-Cover läuft vom Band. Dann: Schuss, Explosion, Feuer. Bewaffnete Banditen stürmen die Bühne. Es geht um alte Feindschaft, Öl und Verrat. Aber wie immer bei May verliere ich den Faden. Zu viele Nebenhandlungen, zu viel Ereignis. Das Publikum ist on fire. Du klatschst mit. Als ich wieder hochgucke, sehe ich, wie die Bäume auf dem Kalkberg leicht zittern. Wind kommt auf. Ganz weit am Horizont erblicke ich eine kleine Wolke. Fast legt sie sich über die Sonne. Und Katy beginnt zu tanzen. Sie führt eine Gruppe deutscher Auswanderer an. Ich erinnere mich an die Stunden, die meine Geschwister und ich mit Hinter Gittern verbracht haben. Zur Einstimmung erst Unter Uns, dann GZSZ, was sonst, und, endlich, Hinter Gittern – Der Frauenknast. Katy war Walter, Bankräuberin und Cheflesbe. Mit brennenden Augen saßen wir vorm Fernseher, bis meine Mutter meiner ältesten Schwester pünktlich um 22 Uhr 15 die Fernbedienung aus der Hand riss und ihre brasilianische Telenovela einschaltete. Noch im Bett dachte ich über sie nach – die ernste, verlässliche, gerechte, beizeiten cholerische Walter, Königin der Station B, aus der sie immer wieder ausbricht, in die sie immer wieder zurückkehrt. May übers Gefängnis: Da war zunächst ich selbst, nämlich ich, der ich das Alles beobachtete. Aber wer dieses Ich eigentlich war und wo es steckte, das vermochte ich nicht zu sagen. Der nächste Schuss knallt. Hinter falschen Kakteen taucht eine einzelne Feder auf. Die Kapitalisten merken noch nichts. Katy rafft ihre Röcke und purzelt in den Planwagen. Wassili tippt eine Notiz ins Telefon. Und ich denk an Jean Genet, den Dieb und Dichter. Mit zehn Jahren wird er zum ersten Mal erwischt. Strafkolonie, dann Prostitution. Schließlich wird er Polizeispitzel. Dreißigjährig droht ihm Verwahrung auf Lebenszeit. Im Gefängnis beginnt er, auf sein Urteil wartend, zu schreiben. Von Anfang an erhält Genet die Anerkennung, die May bis zum Schluss verwehrt bleibt. Sartre und Picasso bemühen sich um die Veröffentlichung seiner Texte. Er wird begnadigt – das Genie darf in Freiheit schreiben. In Mays Werken fehlt alles, was stört: Frauen, Staaten, Lohnarbeit. Trotzdem verletzt er sie nicht, die bürgerliche Ordnung, er entwirft bloß einen Raum, der ohne sie auskommt. Der Wilde Westen als Ausnahme, die die Regel bestätigt. Die sie überhaupt erst legitimiert, dort, wo sie herrscht. Also auch in seinem Leben.  Ein oppositioneller Bürger, der kein Bürger sein darf, heißt es von Genet. Ich mal die Welt an meine Zellenwand. Ich mal und übermal sie tausendmal. Und jetzt – jetzt fließt der Euphrat durch die Börde. Und das Mittelgebirge meiner Kindheit wird zum Rückgrat Amerikas. Ich erreich, NEIN: Ich erschreib mein Reich. Ich setz ein Wort aufs Papier, und es fällt mir leicht.  Ich les den Atlas, als wär er ein Orakel. Das Buch der Wandlungen vielleicht, weil, weil – auch diese Grenzen wandeln sich. Schlag den Atlas auf, und wo dein Finger liegt, da fließts, NEIN: Schlag den Atlas auf und lies, was in Zukunft geschieht, und vor allen Dingen – WO! In Riesa taucht die Elbe auf.  Du hast diese Kamera dabei, mit der du später, wenn auch zögerlich, die Schrumpfköpfe fotografieren wirst, die in meiner Erinnerung an einer Schnur hängen, wie Knoblauch zum Trocknen.  Wir also in Mays Haus. Erwartbares Interieur: Perserteppiche und poliertes Holz und Trachten, die an die Wand gepinnt sind, als seien ihre am Schlafittchen gepackten Träger aus dem Stoff geschlüpft, als sei nur die Hülle des so Fixierten übriggeblieben, und so ist es ja auch. May, der was völlig andres in die Hülle füllt, konditormäßig mit der Spritztüte reindrückt, und so wird Winnetou zwangsläufig Zuckerwerk, und später dann steigt Uschi Glas in die Kleider des sogenannten Halbbluts Apanatschi, von dem May niemals schrieb.  Der verwirrende Weinbauwohlstand Radebeuls. Im Museum und in den Gasthäusern sind wir Touristen, auf der Straße aber fühlen wir uns beobachtet. Wir haben beide noch nie in der Provinz gewohnt.  Wobei – Einmal verbrachte ich ein halbes Jahr in Bamberg. Ich wurde krank dort. Ich verließ das Haus nicht mehr. Ich stellte meinen Tisch vor die angelehnte Terrassentür. Die Zigarettenhand nach draußen haltend, saß ich da und schaute auf die Regnitz, an deren anderem Ufer eine Informationstafel darüber aufklärte, wer in diesem Häuschen wohnte: ich nämlich. Manchmal winkten Touristengruppen in bunter Regenkleidung, und ich winkte kraftlos zurück. Bamberg drohte zu platzen. Väter aus Wisconsin aßen Schäufela und tranken nach Schinken duftendes Rauchbier und erzählten ihren Kindern, wie es war, als sie hier stationiert waren. Wo sie sich mit Einheimischen gebengelt hatten, wo der Weg zur Kaserne verlief, auf welchem vereisten Pflasterstein sie einmal besoffen ausgerutscht waren. Ausgerechnet hier, wo die Welt sich also Deutschland, Old Europe gar, imaginiert, wie es niemals war, ausgerechnet hier saß einmal der Karl-May-Verlag, bis er nach der Wende nach Radebeul zurückzog. Das Bamberger May-Museum wurde fünf Jahre lang von Silkirtis Nichols geleitet, einem Schwarzen Cherokee-Choctaw aus Denver, der mit seiner Frau Liselotte hauptberuflich im Indianercircuit unterwegs war. Der 1923 geborene Nichols war, glaubt man Lokalzeitungsberichten, froh, sich in Deutschland mit seiner Kultur auseinandersetzen zu können. Zumindest hat er in seinem langen Leben nie Gegenteiliges behauptet. 1942 eingezogen, diente Nichols noch lange nach Kriegsende in der amerikanischen Armee. So kam er nach Deutschland – vor der großen Läuterung. Währenddessen galt in den USA noch das juristische Dogma der Rassensegregation. Jahrhundertelang hatten auch Indigene mit Versklavten gehandelt. Die Cherokee und die Choctaw, die Chickasaw, Muscogee und die Seminolen kämpften im Sezessionskrieg sogar auf der Seite der Konföderierten, nicht zuletzt, weil ihnen ein eigener Staat versprochen wurde, den sie nicht bekamen. Nach der Abschaffung der Sklaverei verfügte die amerikanische Regierung, die Freedmen sollten gleichberechtigte Mitglieder ihrer Völker werden. Die Chickasaw und die Choctaw weigerten sich. Einige Freedmen blieben trotzdem im Reservat, andere gingen in den Norden. Dann beschloss Washington die Privatisierung indigenen Lands. Dort, wo die fünf Völker zuletzt lebten, wohin sie vertrieben worden waren, entstand so der Bundesstaat Oklahoma. Kurz darauf sieht Franz Kafka das Foto eines Mannes, der ebenda gelyncht wurde, in Oklahama, wie es unter dem Bild heißt, und irgendwie sickert diese fremde Gewaltgeschichte in diejenige, deren Teil auch Kafka selbst ist, und zwar doppelt, vom selben Standpunkt in zwei Richtungen blickend. Und wenn sein Held Karl Roßmann sich später zum Schwarzen erklärt, dann ist das idiotisch, aber eben auch Ausdruck jener Affinität, die der Teenager Kafka spürt, als er das Buch höher hält, ins Gelb der Lampe, die das elterliche Wohnzimmer erleuchtet an diesem regnerischen Prager Nachmittag. Das also, denkt Kafka, geschieht in Oklahama, aber es geschieht auch östlich von Prag. Er ist siebzehn Jahre alt, und er weiß noch nicht, oder doch, irgendwie weiß er es schon, dass er Karl Roßmann in ein anderes Oklahama schicken wird, das sich von dem Ort aus dem Buch unterscheidet. Es meint Hoffnung. Es meint den Glauben daran, dass Bezeichneter und Bezeichner eins werden können. In der jungen BRD jedenfalls wäre es peinlich gewesen, Nichols' Herkunft genauer prüfen zu wollen. Diejenigen, die ihn als Museumsdirektor einsetzten, hatten ja noch ihre Ahnenpässe auf dem Dachboden, hatten selbst noch die Stammbäume ihrer Familien ins DIN-A4-Heft gezeichnet. Darin lag auch der Reiz Apanatschis: Ein Halbblut sein, das war gerade erst verboten gewesen, und jetzt, da ging es wieder, irgendwie. Nichols' Biografie hat ihn, Jahrzehnte bevor das Wort woke eine neue Bedeutung bekam, zur Museumsleitung qualifiziert. Die fränkischen May-Enthusiasten waren dringend angewiesen auf den Aderlass des Echten. Im düstern Auge keine Träne, Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne: Deutschland, wir weben dein Leichentuch, Wir weben hinein den dreifachen Fluch – Wir weben, wir weben! Einmal reichte eine gewaltige Gletscherzunge bis tief hinab in das, was heute der Osten Deutschlands ist. Und die Elbe lag darunter verborgen, oder sie hat sich daraus hervorgeschält. Dieser Gletscherzunge wegen entwickelte sich die Krähenpopulation östlich und westlich der Elbe anders. Die Ost-Krähen haben graues Gefieder mit schwarzen Flügeln, die West-Krähen aber ganz schwarzes. Tiere, die aus der Verbindung zwischen Ost- und West-Krähen entstehen, haben als Bastarde schlechtere Fortpflanzungschancen.  Das Bastardisierte, das Illegitime, das Enterbte. Das Zwittrige, das Unklare, das eigentlich nicht Erwünschte, das aber trotzdem da ist, das nicht weggeht, der Schmutz, der Trash, den selbst die verleugnen, die ihn lieben: Karl May, straight aus der Gosse.

Enis Maci und Mazlum Nergiz, Karl May. © Suhrkamp Verlag, 2024 Berlin, S.13-32. Mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin AG.

Enis Maci ist Autorin des Essaybands Eiscafé Europa (2018) und Karl May (2024) – zusammen mit Mazlum Nergiz –  sowie einer Reihe von Theaterstücken, darunter Mitwisser, AUTOS und WUNDER. 2022 feierte Kamilo Beach (gemeinsam mit Pascal Richmann) Premiere an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Im selben Jahr wurde Lorbeer am Schauspiel Stuttgart uraufgeführt, und WÜST erfuhr seine finnische Erstaufführung am Kokoteatteri Helsinki. 2023 folgen die Premiere von WUNDER in einer Koproduktion der Sala Beckett in Barcelona und des Schauspielhaus Wien sowie die dänische Erstaufführung von WÜST am Theater Aarhus. Enis Maci ist ausserdem Mitherausgeberin der Kollaboration Ein faszinierender Plan (Spector Books). Die Installation gleichen Namens wurde von den Ruhrfestspielen Recklinghausen und den Münchner Kammerspielen koproduziert. In Zusammenarbeit mit dem Lenbachhaus gab sie darüber hinaus den Band Filamentous Magic Carpets heraus. Diese Arbeit beschloss ihr Fellowship am Käthe-Hamburger-Kolleg global dis:connect der LMU München. Enis Macis Arbeiten wurden vielfach ausgezeichnet, zuletzt etwa mit dem Max-Frisch-Preis der Stadt Zürich. 2022 war sie Stipendiatin der Villa Aurora in Los Angeles.

Enis Maci

Mazlum Nergiz schreibt Prosa, Essays und Theaterstücke, zuletzt 1000 Eyes und Am Fluss. Er absolvierte den Masterstudiengang »DAS Theatre« der Amsterdamse Hogeschool voor de Kunsten. 2021 gewann er das Hans-Gratzer-Stipendium vom Schauspielhaus Wien für sein Stück COMA. 2023 erscheint im MÄRZ Verlag die davon adaptierte Graphic Novel KOMA in Zusammenarbeit mit Leonie Ott. 2022 hat er gemeinsam mit Juan Miranda die Stückentwicklung The Sense of Belonging am Schauspiel Hannover zur Uraufführung gebracht. Die Erzählung 392 Tage der Visionen ist bei Spector Books erschienen. Veröffentlichungen von Texten in den Kollaborationen Filamentous Magic Carpets und Ein faszinierender Plan. Er hat das Drehbuch für den Kurzfilm Ce qui doit arriver, arrivera verfasst. Seine Arbeit wurde zuletzt mit dem Arbeitsstipendium Literatur des Landes Niedersachsen und dem Aufenthaltsstipendium des Berliner Senats ausgezeichnet. Mit Enis Maci schreibt und inszeniert er das Stück KARL MAY für die Prater Studios am Rosa-Luxemburg-Platz in der Spielzeit 2023/24. Der gleichnamige Essay erscheint im Frühjahr 2024 im Suhrkamp Verlag. Ab der Spielzeit 2023/24 ist er Mitglied der Leitungsgruppe am Schauspielhaus Wien.

Mazlum Nergiz

Karl May

»Kommt mit uns ins Schwärmen und schreibt die ersten Sätze von BuchBasel-Romanen weiter!«Diesem Aufruf sind im Sommer über 50 Neugierige gefolgt, die sich für unser Schreibspiel angemeldet haben.Jede*r von ihnen bekam einen ersten Satz zugeschickt und dazu feste Spielregeln, um ihn fortzusetzen: Sie hatten nur 100 Zeichen, um die Geschichte weiterzuerzählen.Zum Zeitpunkt des Spiels wussten die Teilnehmenden nicht, mit welchem Roman sie es zu tun hatten. Erst nach der Abgabe haben sie erfahren, welcher BuchBasel-Titel ihr Patenbuch geworden ist.Auf dieser Seite findet ihr die Fortsetzungsgeschichten. Wenn ihr Lust bekommen habt, es selbst auszuprobieren: An unserem Stand auf der BuchBasel könnt ihr euch Postkarten mit den Satzanfängen abholen.Und falls die ersten Sätze euch Lust auf mehr machen, besucht die Veranstaltungen während des Festivals oder findet das Buch in der Buchhandlung im Volkshaus. Außerdem gibt es hier auf der Plattform Auszüge aus zwei der Romane zu entdecken.

Von süss und zu zart, zu ein wenig rauchig, ein wenig hart. Das Bittere würde sie am liebsten gleich umgehen, doch auch dieser Geschmack lässt sie erfahren, dass das Paradies ohne diese Stellen nicht das dasselbe wäre. Es leuchtet im Dunkeln und schreit laut: »Sinn!« Es, sie, er, das Gesuchte, das sich hinter jeder sinnlichen Erfahrung versteckt. Sinn, Sinn, Sinn… Sin wie Sünde, Sinn wie Rosine, Sinn wie … je öfter sie das Wort im Kopf ausspricht, umso sinnloser wird es, sie, er. Der Sinn in ihr. Ein Irrsinn.

Sie schiebt die Schokolinse von rechts nach links. Orange, die Linse war orange. Leuchtend schön, deshalb hat sie die zuerst genommen. Aber orange kann das Paradies nicht sein. Orange schmeckt hart, schmeckt, als hätte sich die Fabrik keine Mühe bei den Zutaten gegeben. Sie schiebt weiter. Rechts. Links. Und auf die Zungenspitze. Ava spürt, dass die Linse weicher wird – endlich kommt die Schokolade unter der Zuckerschicht zum Vorschein! Ava macht die Augen zu und jetzt lässt sie die Schokolinse liegen, damit das Paradies so langsam wie möglich auf ihrer Zunge schmilzt.

Es schmeckt nach verblasstem Gras, vergorenen Äpfeln, gärendem Honig, verklumpter Buttermilch, nach der Handinnenfläche eines Fremden, Es schmeckt wie alles auf einmal, nach der weißen Anwesenheit aller Farben, nach der schwarzen Abwesenheit aller Farben, nach der ungewaschenen, zweitausend Jahre alten Erektion von Jesus fucking Christus, schmeckt nach Smalltown Boy von Bronski Beat, schmeckt wie zum letzten mal verliebt, es schmeckt nach einemTag älter, einem Tag tiefer und ebenso tot, es schmeckt wie die Sitzflächen der Regionalzüge und Ava erkennt, dass es ein Fehler war das Paradies anzulecken, es in den Mund zu nehmen. Alles geschmeckt, alles gesehen.

Immer tiefer gräbt sie in ihre Erinnerungen, voller Zuversicht, nicht lange suchen zu müssen - jedoch bald müde davon, nichts zu finden.  Sie sucht und sucht, bis auf die letzte Abteilung ihres Mundraumes. Jede Bewegung ist eine Bewegung näher zu jenem Ort, welchen sie sich seit ihrem Lebensweg sehnsüchtig zu wünschen vermag. Sie sucht vergebens. Und obwohl sie weiss, dass das Paradies mehr ein Zustand ist als ein Geschmack, bleibt die elementare Sehnsucht: Die Suche nach Glück und dem tiefen Sinn ihres Lebens.

Alles, was sie findet, ist der Zigarettenduft von letzter Nacht und die Erinnerung an Zitronenmelisse. Sonnenlicht schleicht sich durch ein dreckiges Fenster, malt verschlafene Lichtflecke auf die schwere Decke, unter der Avas vom Schlaf warmer Körper zu kribbeln beginnt, als sie eine Bewegung neben sich wahrnimmt. «Guten Morgen», brummt eine tiefe, warme Stimme. Aus dem Augenwinkel sieht Ava Milas rote Haare, die sie gestern betrunken mit einer Küchenschere geschnitten hatte. Ein Lächeln schleicht sich auf Avas Lippen, bevor sie sich zu einem Kuss zu Mila dreht. «Guten Morgen», gibt sie zurück. Näher am Paradies war sie schon lange nicht mehr.

Sie nießt und nießt nochmal eine Wolke. Druck weg. Sie fährt mit dem Airwaves-Kaugummi ihre Landkarten entlang, kaut auf Opas Zeitungsschnipsel, beißt von Mamas Apfelbrot, schluckt Ruths Nachrichten hinunter. Die Linien fließen mit ihrer Sprache hinein und hinaus, bilden kleine Inseln auf Avas Worten, verschwimmen nach ein paar Tagen. Archipel der Erinnerung. Immer wieder spuckt sie einen neuen Atlas aus. Dann greift sie zu der großen Hubabuba Packung, schlumpfblau. Geht raus und ciao Wave, hallo Kindheit. Jetzt die ganze Rolle auf einmal, bei der Hälfte ist ihr Mund voll. Große Blase. Auch Himmel, auch Wolken. Dann geplatzt.

Sie drückt und streckt die feuchte Fleischigkeit in ihrem Mund in alle Richtungen. Ihr Gesicht wirkt säuerlich. Wie etwas finden, was vielleicht noch nie gefunden? Ava presst die Zunge noch fester gegen den Gaumen, bis sie nach Luft schnappt und verärgert die Augen aufreisst. Ihre Zunge verheimlicht ihr etwas! »Ich muss den Suchbereich ausweiten und alles ablecken was…« - »Bitte was?« Ein Chor von Gelächter schaltet sich ein. Erst jetzt realisiert Ava, dass sie immer noch an der Frischetheke steht und die Metzgerin bald auch die Geduld verliert. Hastig gibt sie ihre Bestellung auf und verlässt mit einem Wildschweinsteak das Geschäft.

Sobald sie deinen Mund verliessen, machten sie Luftsprünge, wirbelten herum und setzten sich neu zusammen. So wurde einmal eine banale Diskussion über das M-i-e-t-s-h-a-u-s deiner Oma zu einer Debatte über A-t-h-e-i-s-m-u-s und an deinem 7. Geburtstag äussertest du versehentlich trotz Tierhaarallergie den Wunsch nach einem K-a-t-e-r statt einer K-a-r-t-e. Durch deine ungehorsame Sprache wurdest du schon früh an den Konstruktivismus herangeführt. Über die Jahre begannen die Buchstaben weniger zu tanzen und dadurch auf irritierende Weise Wirklichkeiten anzuzweifeln. Die Frage nach der Verantwortung für die durch verbale Konstrukte geschaffene Konsequenzen blieb allerdings bestehen: Wer sollte sich nur um den Kater kümmern?

Doch du wolltest unbedingt wissen. Wissen, wie sich jeder Buchstabe im Mund anfühlt. Weich, hart, salzig oder süss. Du wolltest Speichel ansammeln, damit sich alle Buchstaben wohl fühlen, doch dein Mund war trocken. Du hast gesehen, wie zwei Menschen sich um ein Kind streiten. Man betrachtete deine winzigen Hände und machte die Faust im Sack.   Du bist im Land des Vergessens gelandet.  Doch es gab Bücher. Viele.  Du hast lesen gelernt. Da warst du vier. Die Buchstaben schmiegten sich an die Haut; mehrschichtig unverhornt.  Dann warst du fünf. Doch die Buchstaben gehörten dir nicht. Dein Mund wurde in Gefangenschaft genommen.

Womit du andere erreichen konntest, war dein Strahlen. Zwar wollten dir keine Worte gelingen, du fandest keinen Zugang zur Sprachwelt der anderen. Deine Welt war die des Menschseins ohne Sprache in Buchstaben. Deine Art des Austausches war Gespür, war Menschlichkeit, war das Dazwischen, stets sanft und humorvoll, neugierig und staunend. Zwischen den Zeilen kommuniziertest du. Und verstandest, was in der Welt der Wörter, allzu oft überschwappend vor losem Inhalt, verborgen bleibt. Du verstandest die Menschen, konntest sie berühren und irritieren. Was wäre eine Welt ohne Sprache? Eine Welt zwischen den leeren Worten?

Du denkst an die Zeit zurück und sehnst dich nach den Punkten und Strichen. Eigentlich lassen dich die nicht gehorchenden Buchstaben gleichgültig sein, denn was willst du mit gehorsamen Buchstaben? Verwerfe den Gedanken, denn die gehorchenden Buchstaben lassen dich ein Teil von denen sein, die nicht gehorchend Buchstaben gar nicht kennen. Doch das Biegen und Brechen macht sie nicht zu ihren Buchstaben. Du sehnst dich nach der Melodie der Striche, der Nachklang der Punkte. Heute wünschst du dir die nicht gehorchenden Buchstaben und deren Bedeutungslosigkeit zurück. Wie war das Leben, mit fünf.

Es war, als würden sie zwischen den Milchzähnen Katz-und-Maus spielen. Je mehr du sie einzufangen versuchtest, desto geschickter verschwanden in eine der vielen Lücken. Weg waren sie. Manchmal gelang es dir, zwei oder drei von ihnen zu erwischen und daraus eine Silbe zu formen. Ganz selten reichte es sogar für ein Wort. Doch sobald du mehrere davon aneinanderreihen wolltest, stahlen sich einzelne Buchstaben davon und alles begann wieder von vorn. Es fühlte sich an, als würden die Wörter langsam auf der Zunge zergehen, aufgelöst im Speichel zweier Muttersprachen. Damals gab es in deinem Mund statt ganzen Sätzen Laute im Überfluss.

Meine Schnittlauchlocken zwitscherten leise, als ich nochmals in den Papierhaufen pustete. Und dann pustete ich nochmals. Irgendwo mussten doch die Klammern geblieben sein. Und die Leine? Die bunten Zettel hatte ich gestern noch mit Papa angeklemmt. Er hatte mir gezeigt, dass  ich die Zettel aneinanderlegen konnte und er wusste, was ich sage, alles ohne Ton. Ich pustete nochmals in die Zettel – äh, Buchstaben. »Na gut, dann klebe ich halt!« Mit Feuereifer riss ich Klebestreifen ab und pappte den Buchstaben, einen nach dem anderen rings um mein Bett. »Papa liest mir heute Abend vor, was ich gesagt habe«, dachte ich glücklich.

Die Wörter verliefen ergebnislos. Du verlegtest dich aufs Hören. Die Buchstaben gehorchten auch da nicht. Also kehrtest du zum Buch zurück. Ich war zwölf. Mir gehorchten die Buchstaben. Ich gehorchte Papa nicht. Als ich zurückkam, saßest du immer noch vor dem Buch. Papa hat es dir mitgebracht. Alle gehorchten Papa, alle die da waren. Also würden die Buchstaben auch irgendwann dir gehorchen. Du wolltest nicht fortgehen. Jetzt bist du Mathematiker. Dass Papa nicht mehr da ist, tut uns beiden auf verschiedene Weise weh.

Wie immer. Wie immer die Leute sie spotten. Über mich. Meine Beute. Auch heute. Wir heisst ich mit mir und dem Fisch. Hier am Tisch. Mein Leben eben. Schleppende Prosa ohne Rosa. am rand. zwischen land <code>und</code> <s>meer.</s> hin- <code>und</code> <s> hergerissen. </s>nicht <code>klar</code> <s>wissen. </s>stehen <code>oder</code><s> mitgehen? </s><code>das nasse reisst. ich reise mit.</code><s> wenn wild sich schliesst. sich mir erschliesst. ein bild am rand. mein land. Die Zeilen, die eilen, fliessen ins Weilen. Stillstand am Strand. Das Anspülen anfühlen. Ein neues Kapitel bescreib ich. Unbeschreiblich. Unfassend umfassend. Fühl mich bereit für breit. Für Prosa. Und füll sie mit Rosa.</s>

der seitenwechsel von Nicola Renfer (die archiTEXTin)

Ich hasse Fisch. Ich liebe Steaks und Würste. Aber er ist so süss. Seine Lachfalten, seine behaarten Arme, seine Finger, die mir ein Fischchen zwischen meine Zähne schieben. Ich lächle in sein Gesicht und denke dabei an den Mount Everest, an Monty Python und an meinen Hund, der diese Fische lieben würde. Jetzt wäre es an der Zeit, zu sagen: »Halt. Stopp. Zieh das Ding wieder raus und zwar schnell!« Stattdessen beiss ich auf das Fischchen. Mein ganzer Körper hört die kleinen Gräten knacken und wird überschwemmt von Fischgeruch. Ich blick ihm verliebt in die Augen und sage: »Mmmmmh, fein.«

Noch heiss von der Glut liegen die erschlagenen Fische auf dem Plastikteller in deiner Hand. Zu feingliederig sind ihre Knochen, als dass wir sie vor dem Essen entfernen müssten. Das könnte romantisch sein. Wie wir uns diese ganzen Fische, samt Schwänzen und Augen, in die Münder schieben. Uns in die Augen schauen und gegenseitig in einer liebevollen Geste den Speichel von den Mundwinkeln wischen, zulächelnd. Wir schauen uns nicht mehr in die Augen. Wir bemerken nicht mal mehr den Speichel des anderen, wenn er tropft. Wir sind erschlagen und totgebraten wie unser Mittagessen, verschlungen vom Alltag weit weg von hier.

Ich rieche das getrocknete Salzwasser in deinen Haaren und tunkte eine Sprotte in die Knoblauchsosse. Dein ganzes Gesicht tanzt, wenn du kaust. Es wäre gut, dir zu sagen, dass mein Herz hüpft, wenn dein Gesicht tanzt oder wenn ich über den bleichen Haarflaum deiner Unterarme streiche. Doch ich habe mich innerlich verknotet: »Sprotten sind purinreich. Schlecht, bei Gicht«, höre ich mich sagen.  Eine Gräte klebt an meinem Gaumen. Ich kriege sie mit der Zunge zu fassen und pflücke sie aus meinem Mund. »Wenn ich dich betrogen hätte, würdest du es wissen wollen?«, fragst du und greifst nach einer Sprotte. (…)

In der Luft liegt der Geruch nach rotem Gold. Auf dem Markt tummeln sich die Kauffreudigen. Ich betrachte den toten Fisch. Er glubscht hämisch zurück. Du spiesst ihn mit der Gabel auf, schmatzt genüsslich. Du Weltentdecker, du Alleskönner, du Liebhaber, du. Die Reise nach Marokko habe ich dir zum Geburtstag geschenkt. Ich wusste: Entweder wir trennen uns, oder wir verreisen. Es war keine Flucht, und doch waren wir beide froh darum. Ich würde jetzt gerne im Meer schwimmen, mir von den Fischen die Füsse küssen lassen. Ich Unverschämte, ich Lebensfrohe, ich Verlogene, ich. Aber gut. Man muss eben Kompromisse eingehen.

Wir saugen den Saft aus den dünnen Körpern und schauen dabei auf unsere Finger. Ich stelle mir vor, wie sich Schuppen unter deine Fingernägel bohren. Ich könnte sie mit meiner Zunge heraus saugen, später, wenn wir wieder im Hotel sind, wenn du erschöpft auf dem Bett liegst, das Fenster weit geöffnet, der Vorhang vom Wind leicht bewegt. Ich würde meinen Atem auf deine Brust sausen lassen, er würde sich verfangen in deinem Haar, dir würde heiss werden und ich würde deine Haut nach Schuppen untersuchen.

Ich hatte schon lange vorgehabt, die unpraktische Lücke auszugleichen, wo früher mal ein Ofen gestanden hatte. Als Malerin/Gipserin waren alle nötigen Arbeiten Routine. Gestern standen Folie, Isoliermaterial und Verputz bereit, als der bullige Nachbar klingelte. Was ich mir einbilde, seiner Frau zur Anzeige zu raten? Sie hätte ihren Mann schliesslich zu respektieren. Hinter ihm erschien ihr Kopf in der Wohnungstür. Wieder mal mit Sonnenbrille, trotz der späten Stunde. Ich tickte aus! Meine Hand streicht über die flache Zimmerwand. Ich bin schuldig, ja. Aber ein schlechtes Gewissen habe ich nicht.

Die Wendeltreppe in den oberen Stock scheint endlos und macht mich schwindelig. Etwas hat sich verschoben, das universelle Gleichgewicht ist gestört. Der Boden will meine Füsse nicht aufnehmen, die Wände kippen weg. Nirgends Halt. Meine Augen schweifen hektisch durch den Raum. Das Kind liegt unnatürlich blass in der Krippe. Ich versuche ruhiger zu atmen und plötzlich ist da Stille - totale, lang ersehnte Stille und mein Herz pumpt unaufhörlich Blut durch meinen Körper und aus den Ecken kriecht die Schuld, greift nach mir mit dürren Fingern und ruft: »Schuldig, schuldig, schuldig!« Und die Stille ist verschwunden.

Ich hatte nicht geplant, was passiert war. Und dennoch. War es so abwegig, was geschehen war? Wahrscheinlich nicht. Und doch. Geplant war es nicht. Oder?  Bin ich ganz unschuldig? Hatte ich es vielleicht tief in mir drin erwartet? Oder nicht? Dieses flaue Gefühl im Magen bleibt. Ich hinterfrage mich selbst - mein Handeln, meine Gedanken. Was war unbewusst? Was bewusst? Ich weiss nicht, ob ich schuldig bin. Ich weiss nicht, inwiefern ich dies geplant hatte. Oder nicht. Würde ich anders handeln? Ja. Natürlich würde ich das. Im Nachhinein bereut man. Im Nachhinein ist man immer schlauer. Aber immer erst im Nachhinein.

Bohrlärm aus der Nachbarswohnung weckte mich früh an diesem Herbsttag. Dabei wäre Schlaf heilsam gewesen für Schnupfen und Menskrämpfe. Es musste mich im Tiefschlaf erwischt haben. Traumbilder hingen im schlafwandlerischen Geist: Eine Pöstlerin, die aus Wut über den Stellenabbau Briefe und Pakete in ihr eigenes Menstruationsblut getaucht und so verteilt hatte. Noch ging der Traum mir nach, als ich meine Zeitung holen wollte. Vor der Haustür lagen zerfetzte Briefe und ein Paket, rotverschmiert. Seither verfolgt mich die Frage, was es damit auf sich hat. Vielleicht doch ein schlechter Halloween-Streich?

Ich befrage meine Zimmerpflanzen, sie lassen ihre Blätter hängen. Mein Freund meint: »Was ist das denn für eine Frage so früh am Tag?« Meine Mokkakanne stimmt pfeifend für nein. Meine Mutter seufzt am Telefon: »Ach Kind.« Mein Bücherregal ist sich nicht einig, was schuldig überhaupt bedeutet. Die Nachbarskatze meint, das kümmert sie nicht. Der Regenschirm verkündet, das sei nicht sein Fachgebiet. Mein Therapeut fragt: »Was erhoffen Sie sich von einer klaren Antwort?« Der Bus ist zu müde, um darüber nachzudenken. Daheim fragt meine Dusche, ob ich etwas Wärme brauche. Ich sage ja, fünf Minuten später ist meine Frage verschwunden.

Ich versuche mich von außen zu betrachten - beim Finger-in-die-Stange krallen in der vollen Tram (es regnet, ich kehre fast um); später, als ich dich am Flussufer treffe und wir langsam entlang der Limmat spazieren; wir ignorieren Männer und schreiende Kleinkinder. Vor mir ein kleiner Kieselstein: Ich sehe mir noch einmal dabei zu, wie ich ihn immer wieder wenige Zentimeter weiter trete, minutiös darauf achte, dass er sich nicht in den groben Rillen verfängt. Du wirkst nebensächlich. Und doch: Jetzt versuche ich, deine Wortfetzen wieder zu rekonstruieren (muss ich Passanten fragen?). Vor mir aber immer nur die gleichen Geräusche: das Summen der Tram und der Kieselstein, der leise vor mir herum rollt.

Der Mann auf der anderen Seite, schaut für ein paar wenige Sekunden in ihre lorbeergrünen Augen. India hat seit ihrem dreizehnten Geburtstag kein Fleisch mehr gegessen und der Anblick der toten, schön drapierten Stücke widert sie an. Der Fleischer ist größer als sie erwartet hätte und sein massiger Körper und die blutverschmierte Schürze irritiert sie. Während er mit seinen muskulösen Händen nach dem dunkelroten Fleischklumpen greift, begutachtet India sein Äußeres. Seine Haare sind grau, schulterlang und fettig und seine hängenden Mundwinkel lassen ihn bedrückt aussehen. Nichts an diesem Unbekannten ist India vertraut. Nichts außer die leblose Stille, die ihn umgibt.

»Rindfleisch ist alle«, sagt die Verkäuferin. »Haben Sie gar nichts beiseitegelegt? Ich brauche es wirklich.« India denkt an Marmys abgemagerten Körper, der zu Hause auf sie wartet. Die Essensrationen reichen nicht aus, um sie wieder zu Kräften kommen zu lassen. Selbst mit Krankenzuschlag. »Alle brauchen es.« Der Kropf der Verkäuferin schwillt an. »Was glauben Sie, was ich mir tagtäglich für Geschichten anhören muss.« Indias eine Hand liegt immer noch ruhig auf der Theke, während die andere ihr in den Oberschenkel kneift. Sie ist auf den Ernstfall vorbereitet. Für Marmy, denkt India. Die andere Hand weiß jetzt, was zu tun ist.

Der Ladenbesitzer dreht sich mit spöttischem Blick und zusammengepressten Lippen um. »Was wollen Sie?« India wiederholt ihren Wunsch. »Wir haben selbstverständlich kein Rindfleisch, wir sind eine Bäckerei.» »Ooh.« India kichert. Die Lippen des Ladenbesitzers - nur noch ein Strich.  »Wo bitte finde ich die Metzgerei?« »Eingang nebenan. Nächste Türe.« »Aah. Danke.« India greift nach dem Blindenstock, der unscheinbar an der Theke lehnt.  »Bitte entschuldigen Sie die Störung und einen schönen Tag.« Den Stock vor sich hertreibend, geht India zum Ausgang, drückt die Klinke und schlüpft aus der Bäckerei.  Der Mund des Ladenbesitzers steht offen, sein Blick senkt sich.

Gut, hört sich ein bisschen an wie der erste Satz einer Sachaufgabe. Gleicht kommt die Frage: Wenn ein Pfund Rindfleisch soundso viel kostet, wie viel zahlt India dann für 3,5 Pfund? Oder vielleicht ist das Thema Schätzen. Die armen Vegetarier, die haben da aber echt keine Chance… Dass India uns ein Rezept für Rindfleischgehacktes vorstellt, ist auch möglich. Dafür muss sie natürlich zuerst mal ihre halbe Lebensgeschichte erzählen - wie die nette Verkäuferin hinter der Theke heisst, oder was Indias emotionale Bindung zu Rindfleischgehacktem ist. Da fehlt nur noch der Cookie-Hinweis. Oder vielleicht hat India einfach genug vom Vegetarierinnen-Dasein. Basta

In der Fleischerei ist es totenstill. Alle starren auf die kleine, alte Frau. Einer der Verkäufer findet als erster seine Worte wieder. »Du bist nicht dran! Geh sofort zurück in die Frauenschlange!«, brüllt er. Die männlichen Kunden, die vor der Theke anstehen, murmeln zustimmend. »Unglaublich, die Alte!« schimpft einer. Aber für die Frauen, die sich ganz hinten an der Wand des Verkaufsraums drängen, hat Indias Mut alles verändert. »Rindfleisch für uns!«, ruft eine junge Mutter. Die anderen stimmen ein. »Rindfleisch für uns!«, skandieren sie laut und schieben sich immer näher an die Theke, immer näher an die Männer heran.

Als Veganerin konnte die Situation für sie nicht absurder sein. Die eigenen Prinzipien übergehen - war das der Preis für die Liebe? Vielleicht nur, wenn es um den Tod ging. Und gerade war es besser, sich um die Trauer und den ausbleibenden Hunger der anderen zu kümmern, als um die eigenen Nöte, denkt India fast fröhlich. Für den Grossvater würde sie den Bohneneintopf mit Rindfleisch voller Hingabe kochen und dafür sorgen, dass er nicht nach Abwesenheit der Grossmutter schmecken würde, sondern nach Trost.

Zuhause ist übertrieben. Am zuhausesten ist es bei Tantchen. In ihren Gänsefederbetten, wie in Wolken eingehüllt. Und obwohl ich darauf allergisch bin, macht es mir gar nichts aus, mit verklebten Augen aufzuwachen. Als ich den Türgriff loslasse, klopft es in meinen Ohren. Ein Anruf, sehe ich auf der Uhr. Ich lasse es klingeln, mache einen Schritt nach dem anderen. Dann stoppt alles, Bluetooth disconnected, sagt die Stimme. Ich renne hoch, stürze schweißgebadet mit dem vergessenen iPhone die Treppe wieder herunter. Mein anfänglicher Aufschwung lässt nach, bekommt einen Beigeschmack. Hätte es heute geregnet, hätte Nadja geschrieben, wäre ich heute nicht gegangen.

Ab jetzt gehört die Welt mir und nicht umgekehrt!   Ich bin aufgeregt und fühle mich mutig, als ich mich auf den Weg zum Bahnhof mache. Wie ich es von einer echten Abenteurerin erwarten würde, hatte ich mir vorgenommen, den ersten Zug zu nehmen, der losfahren würde, und erst bei der Endstation auszusteigen. Ich war gespannt, was das Universum für mich bereithielt.  Da stand ich und starrte nervös auf die Anzeigetafel. Der erste Zug fuhr nach Seuzach. Wie konnte das sein?! Ausgerechnet dort lebte mein Ex-Freund, dem ich ohne ein Wort der Erklärung davongelaufen war.  Vielen Dank auch, liebes Universum …

Ob es das jemals war, ist eine andere Frage, die ich mir meist nachts mit kleinen Augen und großer Angst stelle. Doch jetzt, im Schein der Frühlingswärme, ist sie weit genug weg – mindestens genauso weit wie die nachlässig gestrichene Tür oben im dritten Stock, mit ihren ungeölten Scharnieren. Ich blinzele in den zuckerwattigen Himmel und hieve den Koffer in Richtung Freiheit. Noch ein Stop am Briefkasten, neun Stunden Busreise und vier Fruchtriegel – dann stehe ich vor der blau lackierten Tür, hinter der endlich niemand wartet. Das WD-40 schmiegt sich in meiner Jackentasche noch ein wenig enger an mich.

Ich erwische den 52er Richtung Bahnhof und rutsche auf die knautschige Bank hinterm Fahrer. Den Koffer halte ich knapp am Griff. Prompt wird er mir aus der Hand gerissen, als der Bus anfährt. Er kippt mit einem Rabatz in den Mittelgang, überschlägt sich, die linke Spange springt auf, die rechte, wie eine aufgeklappte Muschel liegen beide Hälften am Boden. Innen keine Perle, nur die Jeans, die ich in Florenz gekauft habe, das Hemd mit Paisley Muster, und die dicke Mappe mit den Bildern, zusammengehalten von dem fadenscheinigen schwarzen Band, das sich beim nächsten Öffnen auflösen wird, wie mein zusammenhangloses Leben.

Ich will einfach nur noch weg. Ich schaue auf den Boden, da liegen eine Menge Kaugummis wie ein filziger Pelz irgendwie erinnert mich dies an ein Sternbild. Ich wusste, dass ich es niemals schaffen würde nach Berlin zu fliegen. Das Kürzeste, was ich schaffen konnte, war Australien. Ich ging zum Bahnhof und wählte Marinas Nummer. Wenn es jemanden gab, der meine Entscheidung verstehen würde dann sie. Als ich bei ihr eintraf, nahm sie mich in den Arm und reichte mir gleichzeitig ein Glas. Ich war müde. Ich schloss meinen Koffer auf und lies ihn dann liegen wie einen toten Falter.

Noch ein Blick in den zweiten Stock des gegenüberliegenden Hauses. Das Fenster war offen. Der Mann im weißen Unterhemd war nicht da. Wie ich, verbrachte er viel Zeit rauchend am Fensterbrett lehnend. Wir rauchten uns jahrelang an. Den Moment, in dem wir uns hätten zuwinken können, haben wir verpasst. Auch wenn wir uns auf der Straße trafen, kein Nicken, kein Zeichen des Erkennens. Kurz wartete ich, aber er erschien nicht. Ich war nie davon ausgegangen, wir könnten Freunde werden. Er war immer da. You need coolin′ Baby, I’m not foolin dröhnte es in meinem Kopf. Ich war auch immer da.

Eine andere Zeit: Wir, gerade erwachsen, das Reisen unbequem, das Leben aber nachgiebiger, weicher als heute. Lohmanns unten hatten wieder ihr Duschradio vergessen, das unablässige Murmeln, zwei Koreanerinnen im Nachtzug nach Stockholm, wir auf billigen Sitzplätzen, schliefen mit angezogenen Beinen, steifen Nacken. Jede Klospülung, die in der Nacht unser Mietshaus durchrüttelte, das Schnarchen der beiden, als sie nach 3 Uhr doch endlich eingeschlafen waren. Lange Wochen skandinavisches Spätsommerlicht, Kardamom in bodenlos schwarzem Kaffee waren die Augenringe wert, schmerzende Schultern. Die Nacht in der Wanne hingegen nur kurze Genugtuung: rechtzeitig wach, um Phil einen Kaffee hinzustellen. Schwarz, ein Schuss Duschgel.

Ich träumte mich fort in ein Leben in Freiheit, packte gedanklich meinen Rucksack, schnürte meine Wanderstiefel und befreite mich von all den Zwängen und Ängsten, die mein Leben in den letzten Jahren bestimmten. Wie konnte mir das nur passieren? Mir, die sich immer als Freigeist bezeichnet hatte, die so stolz war auf ihre Unabhängigkeit und die ganze Welt erobern wollte. Was war geschehen? Wann war ich falsch abgebogen? Welche Warnzeichen hatte ich übersehen? Die Badewanne war unbequem. Ein bisschen fühlte es sich tatsächlich so an, als wenn man ohne gute Isomatte in einem Zelt liegt…

Das warme Wasser war längst kalt geworden, aber ich blieb liegen, als wäre jede Bewegung ein Verrat an diesem seltsamen Frieden. In der Stille hörte ich nur meinen Atem und das leise Tropfen des Hahns. Manchmal muss man sich selbst verlieren, um an den unerwartetsten Orten Ruhe zu finden. Aus Trotz gegen alles, was gerade auseinanderfiel, hatte ich mir diese Nacht genommen – ein kleines Stück Freiheit inmitten des Chaos. Vielleicht ist das Geheimnis nicht, wohin man geht, sondern wo man beschließt, für einen Moment stillzustehen. Und während draußen der Morgen graute, wusste ich: etwas hatte sich verändert.

Public Bath, ein Schaufenster in Hamburg. Ich mit Sonnenbrille. Die Wanne (Marke Riho Desire) weit, fast wie ein Meer. Trotzdem warst du mir näher denn je zuvor. Du: eine Person von Interesse. Ich Mittelmaß. Die Köpfe nun zugeneigt. Stirn an Stirn. Wie zwei Pferde, die sich aneinanderschmiegten. Und die Welt warf auch gleich Wellen. Von dir zu mir bis zum Hades, unweit des Peloponnes. Aus dem Radio klang ein Sirtaki. Du fragtest mich: Warum? Und ich begann zu erzählen. Als hätten wir fünf Tage und du wärest freiwillig hier. Ich weiß, wer du außerhalb von Instagram bist, @cjan.kk, sagte ich.

Als mir Tage später der Schaum aus den Ohren blubberte, platzten meine Träume. Die Badewanne bekam Risse und die Kacheln an der Wand schauten mich mahnend an, in ihrer quadratischen Wirklichkeit. Panisch begann ich zu rudern, es war Meer geworden um mich, kein Liegestuhl und Strand in Sicht. Bevor ich im Strudel des abfliessenden Wassers unterzugehen drohte, sprang ich auf, hörte mich «Adesso subito» schreien und setzte plumpsend über. Der Badezimmerteppich, die schwammige Insel, schluckte das übergesetzte Feuchtgebiet, und meine Füsse landeten an, rau war der Tag.

Man mag meinen, eine solche Nacht würde Spuren der Unbequemlichkeit mit sich bringen, doch bis auf die steifen Muskeln, verspürte ich nichts als Erholsamkeit. Die Wanne konnte unserem Bett das Wasser reichen, bilanzierte ich, der Nacken hatte zwar etwas gelitten, das gebe ich zu, aber dieser liesse sich wieder richten. Ich räkelte meinen Körper und spähte vorsichtig über den Wannenrand durch die leichtgeöffnete Tür. Meine Badezimmer-Insel hatte mich gut versorgt, doch mein Magen gab Geräusche von sich, die nicht mehr der Wut, sondern des Hungers, entsprangen. Ich hoffte Dich nicht in der Küche zu treffen und huschte über den Flur.

Mein Bauch war nun eine einsame Insel, der Nabel ein See, die Beine Landzungen, mein Atem das Abenteuer und über der Stirn nichts als Blau. Allen Ballast ließ ich zurück, schulterte einen leeren Rucksack und reiste mit leichtem Gepäck. Ich eroberte Strände, strich durch Farne und kitzelte Rehen die Flanken. Ich dachte an kurze Hosen, Sonnenbrand und Kratzer an den Beinen, ich träumte mich von der Insel in die Berge, fror und schwitzte als sich meine Finger in die Felsen gruben. Ich hievte mich auf einen Vorsprung, an meiner Seite ein wilder Vogel und wir nannten einander flüsternd beim Vornamen.

Es war ein kalter Winter und ich war froh im warmen Café sitzen zu können. Draussen tobte ein Schneesturm weshalb der ganze Boden drinnen nass war. Ich saß an einem Tisch und überlegte mir gerade was ich sagen sollte, er hatte gerade einfach so gefragt ob er mich küssen dürfte! »Ich...«, fing ich an »weiss nicht ob das so eine gute Idee ist, ich meine wir sollten uns vorher noch besser kennen lernen… oder nicht?« Ich sah Enttäuschung in seinen Augen als er anfing zu sprechen: »Wie es die Dame wünscht.« Plötzlich realisierte ich, dass er ein Gentleman war…

Als ich zur verabredeten Zeit in der Bar eintraf, sass er bereits auf einem der kunstlederbezogenen Hocker am äusseren Rand des massiven Tresens. Nur ein paar wenige der runden Tische im Raum waren besetzt, was ich auf die frühe Stunde zurückführte. Mit leicht gekrümmtem Rücken starrte er auf einen Punkt irgendwo zwischen seinen gefalteten Händen und einem halb leeren Glas. Offenbar sass er da bereits eine Weile. Als ich seitlich an ihn herantrat, streckte er mir die Hand entgegen, sein Blick wirkte gleichgültig. Nichts deutete darauf hin, dass wir uns bloss wenige Minuten später in dieser äusserst missverständlichen Situation wiederfinden würden.

Die Frage, ob ich wirklich solch eine Person bin, schwebt um meinen Kopf und ich kann sie nicht beantworten. »Was hätte ich davon, Herr Laberger?«, fragte ich ihn schelmisch. Normalerweise würde ich nicht zögern, man küsst, vergisst und sieht sich nie wieder. Aber vielleicht ist es genau das, was mich zögern lässt. Ein Kuss wird vergessen und ich möchte, dass Herr Laberger sich an mich erinnern wird genauso wie ich ihn nie vergessen werde. »Nun, Frau-« Ich zögerte nicht und unterbrach ihn mit meinen Lippen auf seine… …Wange.

Bevor ich antworten konnte, verging die Zeit in einem seltsamen Fluss. Die Uhr beschleunigte. Plötzlich sassen wir nicht mehr schwitzend im Hochsommer vor dem Café. Die Blätter färbten sich rot, fielen zu Boden. Ich hatte das Gefühl, dass Jahre vergangen waren. »Hast du wirklich so lange gewartet?,« fragte er verblüfft. »Du hattest es halt ganz schön eilig,« sagte ich und blinzelte zaghafte Sonnenstrahlen aus meinen Augen. »Manchmal braucht man Zeit, um einen Kuss zu überdenken.« Ich stand auf. »Vielleicht sehen wir uns ja in ein paar Jahrzehnten wieder.« »Wäre schön,« ruft er mir nach.

Erste Sätze

Lebenserfahrung Der Begriff der »Erfahrung« ist vieldeutig und schillernd  In der Philosophie findet er sich meist im Kontext der Erkenntnistheorie  wo er  je nach Ansatz  die Grenzen dessen auslotet  worüber überhaupt gesichertes Wissen erlangt werden kann  Wenn wir jedoch von »Lebenserfahrung« sprechen  legen wir einen anderen  lebensweltlichen Erfahrungsbegriff zugrunde  der in der Philosophie gemeinhin wenig Beachtung findet (2) Er ist nicht auf die prinzipielle Möglichkeit der theoretischen Erkenntnis der Welt ausgerichtet  sondern auf praktische Orientierung in dieser Welt  welchen Reim man sich worauf machen kann  wie sich zu verhalten angemessen ist  worauf in aller Regel Verlass ist  was sich wirklich lohnt und wie wir im Lauf der Zeit besser zurechtkommen in dem Leben  in das wir gestellt sind  Mit zunehmendem Alter büßen wir zwar an körperlicher Stärke ein und können uns nicht mehr alles so schnell merken  dafür sind unsere »Rüstkammern der Erfahrung reich gefüllt  Doch womit genau? Oder anders gefragt  Was erfahren wir  wenn wir das Leben erfahren? Hilfreich ist an dieser Stelle die Unterscheidung zwischen Wissen und Erfahrung  Wissen lässt sich vermitteln und in der Schule erwerben  Um Wissen zu erlangen  brauchen wir das  was in der Psychologie »fluide Intelligenz« genannt wird  die Fähigkeit  Daten und Fakten in großen Mengen zu speichern und rasch abzurufen  Ab vierzig nimmt diese Fähigkeit bei den meisten langsam ab  Dafür erstarkt in diesen Jahren langsam die »kristalline« Intelligenz  die Fähigkeit  Faktenwissen und gemachte Erfahrungen in Kombination zu nutzen  um Probleme zu lösen und komplexe Zusammenhänge aufzuschlüsseln (4) Zur kristallinen Intelligenz wird auch die Sozialkompetenz gezählt  in konkreten Situationen pragmatisch und angemessen zu reagieren und vorzugehen  Denken wir etwa an den Begriff der »Berufserfahrung«  Er meint  dass jemand nicht nur das nötige Fachwissen mitbringt  sondern erfahrungsgesättigte Kenntnisse und praktische Übung vorweisen kann  also in einer breiten Palette von Situationen Geschick und Geduld zu beweisen in der Lage ist  Lebenserfahrung fällt einem allerdings nicht automatisch im Laufe des Lebens in den Schoß  Man kann durchaus Erfahrungen machen  und dennoch bleiben die eigenen Rüstkammern leer  Wir sind dann zwar gealtert  aber nicht älter geworden in jenem emphatischen Sinne  in dem wir von einem Kind sagen  es sei älter geworden  wenn wir es beispielsweise nach Langem wiedersehen und beobachten  wie es plötzlich interessiert am Gespräch der Erwachsenen teilnimmt  Umgekehrt gelten Erwachsene als kindisch  die wegen jeder Kleinigkeit in Rage geraten oder es nicht ertragen  wenn sie nicht im Mittelpunkt stehen  Wohl sind sie gealtert  offenbar aber unreif geblieben  Eine reife Person verkörpert entsprechend ein normatives Ideal  um das man sich bemühen muss  will man es erreichen  Die Entwicklungspsychologie spricht in diesem Kontext nicht vom Reifen  sondern von Wachstum  Wachstum vollzieht sich  wie auch das Lernen  nicht von selbst und zwangsläufig  sondern schließt das eigene Bemühen notwendig ein  Wenn ich im Folgenden vom »Reifen« spreche  verwende ich den Begriff im Sinne des entwicklungspsychologischen Wachstums  An einer Situation zu reifen  bedeutet so verstanden  dass wir bereit sind  uns konstruktiv mit dem Leben und dem  was uns zustößt  auseinanderzusetzen  Lebenserfahrung erschöpft sich also nicht darin  über die Jahre hinweg mehr Faktenwissen akkumuliert zu haben  sondern ist weit besser als eine Bereitschaft und Möglichkeit vorgestellt  sich von dem  was einem zustößt  prägen und verändern zu lassen und aus ihm zu lernen  Als Vorbedingung für Lebenserfahrung und Klugheit bedarf es dazu  dass wir uns erstens überhaupt Erfahrungen aussetzen  Das ist mitnichten so trivial  wie es vielleicht klingen mag  Wenn die Dichterin Hilde Domin schreibt  »Ich setzte den Fuß in die Luft  / und sie trug  so sprechen diese Verse vom Mut  sich ungeschützt dem Unbekannten preiszugeben  Domin als geächteter und durch den  ins Exil vertriebener  blieb nur die Option  sich neuen Erfahrungen zu stellen  Schutzräume und Rückzugsorte waren ihr auf ihrem Lebensweg lange Jahre verwehrt  Wer dagegen wohlbehütet und in materiell sicheren Verhältnissen aufwächst  hat bis zu einem gewissen Grad die Wahl  inwiefern er oder sie sich ins Leben zu stürzen und die Lektionen zu lernen bereit ist  die allein das Leben lehrt  Wagen wir nicht  den Fuß hin und wieder in die Luft zu setzen  und gehen stattdessen der Eigenverantwortung und neuen Herausforderungen partout aus dem Weg  wachsen wir auch nicht am Leben  Denn Erfahrungen  die wir nicht selbst machen  sind keine Erfahrungen  Das hat nicht zuletzt damit zu tun  dass die prägendsten Erfahrungen meist auch eine leibliche Komponente aufweisen  Sie tun zum Beispiel weh  lassen vor Glück schier bersten  rühren tief an oder versetzen einen Stich  Zwar lässt sich über Verliebtheit  Heimweh  Flugangst  Einsamkeit oder die Liebe zu einem Kind allerhand lesen  Doch wie es sich anfühlt  einsam oder verliebt zu sein  unter Heimweh oder Flugangst zu leiden oder sich um das eigene Kind zu sorgen  weiß man im engeren Sinn erst  wenn man es am eigenen Leib erfahren hat (6) Wenn jemand sagt  »Ich rede aus Erfahrung«  meint sie entsprechend auch genau dies  Dass sie ihre Sache selbst erlitten und dabei etwas verstanden hat  das tiefer gründet und weiter reicht als alles  was sich dazu recherchieren ließe  Deshalb lassen sich Erfahrungen auch nur begrenzt vermitteln  sondern eigentlich nur austauschen  teilen und erzählen  woraus der Trost erwachsen kann  mit der eigenen Erfahrung nicht allein zu sein  Das ist im Übrigen auch einer der Gründe  weshalb ungefragte Ratschläge so unbeliebt sind  Nicht nur  dass ihnen bisweilen ein paternalistischer  besserwisserischer Gestus innewohnt (7) Sie sind oftmals auch müßig  weil wir unsere eigenen Erfahrungen mit einem Sachverhalt machen müssen  um herausfinden zu können  wie wir persönlich zu ihm stehen (8) Zweitens gilt es eben  aus den gemachten Erfahrungen zu lernen und sich von ihnen prägen zu lassen  Dass allzu forsches Auftreten im Team genauso schlecht ankommt wie sich einzuschmeicheln  wird einem meist erst klar  wenn man einmal die eine oder andere Grenze überschritten hat  Manche Lektion  die das Leben lehrt  mag bitter sein  Weshalb blieb es immer an mir hängen  das Protokoll bei den Vereinssitzungen zu schreiben  nach einer Party für den Abwasch zu bleiben oder die Blumen für den Geburtstag der Kollegin zu besorgen? Über die Rolle  in die man stets von Neuem rutscht  kritisch nachzudenken  mag eine Antwort liefern  Ändern lässt sich unser Verhalten aber nur  wenn wir allen Mut zusammennehmen  im entscheidenden Augenblick unser Muster durchbrechen und uns selbst in eine alternative Rolle begeben  Eine der Fragen  die ich anderen Menschen am allerliebsten stelle  lautet  »Was siehst du heute anders als früher?« Weiß jemand darauf gar nichts zu erzählen  irritiert mich das  Hätten die Lektionen des Lebens einen nichts gelehrt  wären sie gänzlich ohne Folgen geblieben  wäre das Leben dann nicht an einem vorbeigezogen? Romane  Filme  Comics und Videospiele arrangieren bekanntlich das Motiv der »Heldenreise« wieder und wieder  der Figur  die durch widrige Umstände moralisch geläutert oder auch einfach nur daran erinnert wird  dass sie bloß dieses eine Leben hat und es beim Schopf packen und gestalten kann   oder aber es vorüberziehen lassen und zum Zaungast der eigenen Existenz werden kann  Die Moral von der Geschichte lautet dabei stets  dass der Heldenfigur das Glück nicht in den Schoß fällt  sondern dass sie etwas lernen muss  bevor sich das Happy End einstellt  Denn zur Lebenserfahrung gehört auch  Verantwortung für das eigene Tun und Lassen zu übernehmen und den eigenen Charakter nicht als gegeben  sondern als Resultat von Reifeprozessen und Lebenserfahrung zu sehen (9) Wer immer den anderen für alles die Schuld in die Schuhe schiebt  tut möglicherweise nicht nur Unrecht  sondern verpasst auch die Chance  sich selbst in Frage zu stellen und positiv zu verändern  Lebenserfahrung zu erlangen  heißt drittens  verinnerlicht zu haben  dass die Zeit doch manche Wunde heilt und Gras über die Dinge wachsen lässt  In den letzten Jahren musste ich oft an einen Satz denken  den meine Großmutter in den unterschiedlichsten Lebenslagen zum Besten gab  »Alles geht vorüber  alles geht vorbei « Als Kind hatten diese Worte etwas Bedrohliches für mich  Die seligen Sommerferien  die Weihnachtstage  der Nachmittag mit ihr im Zoo   sie alle würden vergehen  Erst als ich erwachsen war  verstand ich  dass meine Großmutter den Satz tröstlich meinte  Vorbei gehen ja nicht nur schöne Tage  sondern auch trübe Momente und bange Stunden  und selbst der größte Schmerz versiegt irgendwann oder klingt zumindest etwas ab  Zwar heilt die Zeit bestimmt nicht alle Wunden  sie bringt keine Geliebten zurück  die sich aus unserem Leben verabschiedet haben  und macht unsere Verstorbenen nicht wieder lebendig  Aber hinlänglich mit Schmerz  Verlust und Abschied Bekanntschaft gemacht zu haben  mag einem deutlich machen  dass wir Schweres zu schultern vermögen  Das nietzscheanische Credo »Was mich nicht umbringt  macht mich stärker!« gilt freilich nicht für alle   vielleicht sogar für überhaupt niemanden in dieser Absolutheit  Man kann an Schwerem auch zerbrechen  Was es bewirkt  dass die einen aus harten Zeiten umso gestärkter und beweglicher  andere jedoch wund und von den vielen Vernarbungen steif  unflexibel und zaudernd hervorgehen  ist Gegenstand anhaltender Forschung (10) Aber selbst wer keine besonders resiliente Person ist  wird die Erfahrung kennen  dass noch der größte Schmerz an Bitterkeit verliert und Wunden heilen und vernarben  wenn auch selten spurlos verschwinden (11) (1) Zuza Speckert (2023)  »Gespräch mit Philippe Chappuis alias Zep«  in  NZZ am Sonntag Magazin (20 8 2023)  5   (2) Eine Ausnahme bilden hier die Pragmatisten  insbesondere John Dewey  vgl  dazu etwa Michael Hampe (2017)  John Dewey  Erfahrung und Natur  Berlin/Boston  De Gruyter   (3) Dieser Begriff stammt von Jacob Grimm  »Rede über das Alter«  in  Thomas Rentsch und Morris Vollmann (Hg ) (2020)  Gutes Leben im Alter  Die philosophischen Grundlagen  Stuttgart  Reclam  96 113  hier  108   (4) Pasqualina Perrig-Chiello (2024)  Own your Age  Weinheim  Beltz  196   (5) Hilde Domin stellte diesen Satz ihrem Gedichtzyklus »Nur eine Rose als Stütze« (1957 1959) voran  Siehe Hilde Domin (1987)  Gesammelte Gedichte  Frankfurt a  M   Fischer  111   (6) Vgl  dazu auch Michel de Montaigne (1969)  »Über die Erfahrung«  in  ders   Essais  3  Buch  13  Kapitel  Stuttgart  Reclam  359 375  hier  362   (7) Vgl  dazu den kurzen Text von Walter Benjamin mit dem schlichten Titel »Erfahrung«  Benjamin ist einundzwanzig  als er den Text 1913 verfasst  Die Erfahrung  die Erwachsene in Anschlag brächten  sei nur ein Beweis dafür  dass auch sie einmal jung gewesen seien  dass auch sie ihren Eltern nicht geglaubt hätten und sich vom Leben hättenbelehren lassen müssen  schreibt er   und lässt am wohlmeinenden Ratschlag der Erwachsenen kein gutes Haar  Der Text lässt sich einsehen unter  (letzter Zugriff  20 2 2024)   (8) Vgl  dazu auch die Ausführungen von Henry David Thoreau  der das Leben als »Experiment« bezeichnet  in dem jede und jeder ihre und seine eigenen Erfahrungen zu machen hat  Henry David Thoreau(2013)  Walden  Ein Leben mit der Natur  München  dtv  14   (9) Vgl  dazu auch Harry Frankfurt (2007)  »Uns selbst ernst nehmen«  in  ders   Sich selbst ernst nehmen  Frankfurt a  M   Suhrkamp  Erste Vorlesung   (10) Resilienz   jene Gabe  die einen eher gestärkt aus stürmischen Phasen entlässt   scheint eine Kombination zu sein aus frühkindlichen Erfahrungen  genetischen Faktoren  persönlichen Ressourcen und der sozioökonomischen Umgebung  in die jemand gestellt ist  Vgl  dazu die wegweisenden Arbeiten von Boris Cyrulnik (2011)  Resilience  How Your Inner Strength Can Set You Free from the Past  London  Penguin  und ders  (2007)  Mit Leib und Seele  Wie wir Krisen bewältigen  Hamburg  Hoffmann und Campe   (11) Das beschreibt auch Michel de Montaigne (1969)  »Über die Erfahrung«  in  ders   Essais  3  Buch  13  Kapitel  Stuttgart  Reclam  359 375  hier  368  Barbara Bleisch  Mitte des Leben  Eine Philosophie der besten Jahre  © 2024 Carl Hanser Verlag GmbH &amp  Co  KG  München  S 134-140  

Im Leben ist irgendwann vieles entschieden: wen wir lieben, wo wir arbeiten, wie wir wohnen. Manche sind froh, angekommen zu sein – andere fürchten, festzustecken in einem Leben voller Routinen, und fragen sich, ob es das schon war.Die Mitte des Lebens ist ein Blick in beide Richtungen – auf das, was das Leben geprägt hat, aber auch auf alles, was es noch für uns bereithält. Während viele dabei an die »Midlife-Crisis« denken, ändert Barbara Bleisch in ihrer neuesten Publikation die Perspektive. In ihrer Philosophie der Lebensmitte schwärmt sie von der besten Zeit unseres Lebens.Der folgende Abschnitt über den Begriff der »Lebenserfahrung« ist ein Ausschnitt aus dem Kapitel »In den besten Jahren«, dem folgendes Zitat vorangestellt ist:»Welches Problem, das Sie früher hatten, haben Sie heute nicht mehr?« – »Ich habe keine Angst mehr, nicht der zu werden, der ich sein wollte.«(1)

Der Begriff der »Erfahrung« ist vieldeutig und schillernd. In der Philosophie findet er sich meist im Kontext der Erkenntnistheorie, wo er, je nach Ansatz, die Grenzen dessen auslotet, worüber überhaupt gesichertes Wissen erlangt werden kann. Wenn wir jedoch von »Lebenserfahrung« sprechen, legen wir einen anderen, lebensweltlichen Erfahrungsbegriff zugrunde, der in der Philosophie gemeinhin wenig Beachtung findet.(2) Er ist nicht auf die prinzipielle Möglichkeit der theoretischen Erkenntnis der Welt ausgerichtet, sondern auf praktische Orientierung in dieser Welt: welchen Reim man sich worauf machen kann, wie sich zu verhalten angemessen ist, worauf in aller Regel Verlass ist, was sich wirklich lohnt und wie wir im Lauf der Zeit besser zurechtkommen in dem Leben, in das wir gestellt sind. Mit zunehmendem Alter büßen wir zwar an körperlicher Stärke ein und können uns nicht mehr alles so schnell merken, dafür sind unsere »Rüstkammern der Erfahrung«(3) reich gefüllt. Doch womit genau? Oder anders gefragt: Was erfahren wir, wenn wir das Leben erfahren? Hilfreich ist an dieser Stelle die Unterscheidung zwischen Wissen und Erfahrung. Wissen lässt sich vermitteln und in der Schule erwerben. Um Wissen zu erlangen, brauchen wir das, was in der Psychologie »fluide Intelligenz« genannt wird: die Fähigkeit, Daten und Fakten in großen Mengen zu speichern und rasch abzurufen. Ab vierzig nimmt diese Fähigkeit bei den meisten langsam ab. Dafür erstarkt in diesen Jahren langsam die »kristalline« Intelligenz: die Fähigkeit, Faktenwissen und gemachte Erfahrungen in Kombination zu nutzen, um Probleme zu lösen und komplexe Zusammenhänge aufzuschlüsseln.(4) Zur kristallinen Intelligenz wird auch die Sozialkompetenz gezählt, in konkreten Situationen pragmatisch und angemessen zu reagieren und vorzugehen. Denken wir etwa an den Begriff der »Berufserfahrung«. Er meint, dass jemand nicht nur das nötige Fachwissen mitbringt, sondern erfahrungsgesättigte Kenntnisse und praktische Übung vorweisen kann, also in einer breiten Palette von Situationen Geschick und Geduld zu beweisen in der Lage ist. Lebenserfahrung fällt einem allerdings nicht automatisch im Laufe des Lebens in den Schoß. Man kann durchaus Erfahrungen machen, und dennoch bleiben die eigenen Rüstkammern leer. Wir sind dann zwar gealtert, aber nicht älter geworden in jenem emphatischen Sinne, in dem wir von einem Kind sagen, es sei älter geworden, wenn wir es beispielsweise nach Langem wiedersehen und beobachten, wie es plötzlich interessiert am Gespräch der Erwachsenen teilnimmt. Umgekehrt gelten Erwachsene als kindisch, die wegen jeder Kleinigkeit in Rage geraten oder es nicht ertragen, wenn sie nicht im Mittelpunkt stehen. Wohl sind sie gealtert, offenbar aber unreif geblieben. Eine reife Person verkörpert entsprechend ein normatives Ideal, um das man sich bemühen muss, will man es erreichen. Die Entwicklungspsychologie spricht in diesem Kontext nicht vom Reifen, sondern von Wachstum. Wachstum vollzieht sich, wie auch das Lernen, nicht von selbst und zwangsläufig, sondern schließt das eigene Bemühen notwendig ein. Wenn ich im Folgenden vom »Reifen« spreche, verwende ich den Begriff im Sinne des entwicklungspsychologischen Wachstums. An einer Situation zu reifen, bedeutet so verstanden, dass wir bereit sind, uns konstruktiv mit dem Leben und dem, was uns zustößt, auseinanderzusetzen. Lebenserfahrung erschöpft sich also nicht darin, über die Jahre hinweg mehr Faktenwissen akkumuliert zu haben, sondern ist weit besser als eine Bereitschaft und Möglichkeit vorgestellt, sich von dem, was einem zustößt, prägen und verändern zu lassen und aus ihm zu lernen. Als Vorbedingung für Lebenserfahrung und Klugheit bedarf es dazu, dass wir uns erstens überhaupt Erfahrungen aussetzen. Das ist mitnichten so trivial, wie es vielleicht klingen mag. Wenn die Dichterin Hilde Domin schreibt: »Ich setzte den Fuß in die Luft, / und sie trug«(5), so sprechen diese Verse vom Mut, sich ungeschützt dem Unbekannten preiszugeben. Domin als geächteter und durch den Nationalsozialismus ins Exil vertriebener Jüdin blieb nur die Option, sich neuen Erfahrungen zu stellen. Schutzräume und Rückzugsorte waren ihr auf ihrem Lebensweg lange Jahre verwehrt. Wer dagegen wohlbehütet und in materiell sicheren Verhältnissen aufwächst, hat bis zu einem gewissen Grad die Wahl, inwiefern er oder sie sich ins Leben zu stürzen und die Lektionen zu lernen bereit ist, die allein das Leben lehrt. Wagen wir nicht, den Fuß hin und wieder in die Luft zu setzen, und gehen stattdessen der Eigenverantwortung und neuen Herausforderungen partout aus dem Weg, wachsen wir auch nicht am Leben. Denn Erfahrungen, die wir nicht selbst machen, sind keine Erfahrungen. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass die prägendsten Erfahrungen meist auch eine leibliche Komponente aufweisen: Sie tun zum Beispiel weh, lassen vor Glück schier bersten, rühren tief an oder versetzen einen Stich. Zwar lässt sich über Verliebtheit, Heimweh, Flugangst, Einsamkeit oder die Liebe zu einem Kind allerhand lesen. Doch wie es sich anfühlt, einsam oder verliebt zu sein, unter Heimweh oder Flugangst zu leiden oder sich um das eigene Kind zu sorgen, weiß man im engeren Sinn erst, wenn man es am eigenen Leib erfahren hat.(6) Wenn jemand sagt: »Ich rede aus Erfahrung«, meint sie entsprechend auch genau dies: Dass sie ihre Sache selbst erlitten und dabei etwas verstanden hat, das tiefer gründet und weiter reicht als alles, was sich dazu recherchieren ließe. Deshalb lassen sich Erfahrungen auch nur begrenzt vermitteln, sondern eigentlich nur austauschen, teilen und erzählen, woraus der Trost erwachsen kann, mit der eigenen Erfahrung nicht allein zu sein. Das ist im Übrigen auch einer der Gründe, weshalb ungefragte Ratschläge so unbeliebt sind: Nicht nur, dass ihnen bisweilen ein paternalistischer, besserwisserischer Gestus innewohnt.(7) Sie sind oftmals auch müßig, weil wir unsere eigenen Erfahrungen mit einem Sachverhalt machen müssen, um herausfinden zu können, wie wir persönlich zu ihm stehen.(8) Zweitens gilt es eben, aus den gemachten Erfahrungen zu lernen und sich von ihnen prägen zu lassen. Dass allzu forsches Auftreten im Team genauso schlecht ankommt wie sich einzuschmeicheln, wird einem meist erst klar, wenn man einmal die eine oder andere Grenze überschritten hat. Manche Lektion, die das Leben lehrt, mag bitter sein: Weshalb blieb es immer an mir hängen, das Protokoll bei den Vereinssitzungen zu schreiben, nach einer Party für den Abwasch zu bleiben oder die Blumen für den Geburtstag der Kollegin zu besorgen? Über die Rolle, in die man stets von Neuem rutscht, kritisch nachzudenken, mag eine Antwort liefern. Ändern lässt sich unser Verhalten aber nur, wenn wir allen Mut zusammennehmen, im entscheidenden Augenblick unser Muster durchbrechen und uns selbst in eine alternative Rolle begeben. Eine der Fragen, die ich anderen Menschen am allerliebsten stelle, lautet: »Was siehst du heute anders als früher?« Weiß jemand darauf gar nichts zu erzählen, irritiert mich das. Hätten die Lektionen des Lebens einen nichts gelehrt, wären sie gänzlich ohne Folgen geblieben, wäre das Leben dann nicht an einem vorbeigezogen? Romane, Filme, Comics und Videospiele arrangieren bekanntlich das Motiv der »Heldenreise« wieder und wieder: der Figur, die durch widrige Umstände moralisch geläutert oder auch einfach nur daran erinnert wird, dass sie bloß dieses eine Leben hat und es beim Schopf packen und gestalten kann – oder aber es vorüberziehen lassen und zum Zaungast der eigenen Existenz werden kann. Die Moral von der Geschichte lautet dabei stets, dass der Heldenfigur das Glück nicht in den Schoß fällt, sondern dass sie etwas lernen muss, bevor sich das Happy End einstellt. Denn zur Lebenserfahrung gehört auch, Verantwortung für das eigene Tun und Lassen zu übernehmen und den eigenen Charakter nicht als gegeben, sondern als Resultat von Reifeprozessen und Lebenserfahrung zu sehen.(9) Wer immer den anderen für alles die Schuld in die Schuhe schiebt, tut möglicherweise nicht nur Unrecht, sondern verpasst auch die Chance, sich selbst in Frage zu stellen und positiv zu verändern. Lebenserfahrung zu erlangen, heißt drittens, verinnerlicht zu haben, dass die Zeit doch manche Wunde heilt und Gras über die Dinge wachsen lässt. In den letzten Jahren musste ich oft an einen Satz denken, den meine Großmutter in den unterschiedlichsten Lebenslagen zum Besten gab: »Alles geht vorüber, alles geht vorbei.« Als Kind hatten diese Worte etwas Bedrohliches für mich: Die seligen Sommerferien, die Weihnachtstage, der Nachmittag mit ihr im Zoo – sie alle würden vergehen. Erst als ich erwachsen war, verstand ich, dass meine Großmutter den Satz tröstlich meinte. Vorbei gehen ja nicht nur schöne Tage, sondern auch trübe Momente und bange Stunden, und selbst der größte Schmerz versiegt irgendwann oder klingt zumindest etwas ab. Zwar heilt die Zeit bestimmt nicht alle Wunden, sie bringt keine Geliebten zurück, die sich aus unserem Leben verabschiedet haben, und macht unsere Verstorbenen nicht wieder lebendig. Aber hinlänglich mit Schmerz, Verlust und Abschied Bekanntschaft gemacht zu haben, mag einem deutlich machen, dass wir Schweres zu schultern vermögen. Das nietzscheanische Credo »Was mich nicht umbringt, macht mich stärker!« gilt freilich nicht für alle – vielleicht sogar für überhaupt niemanden in dieser Absolutheit. Man kann an Schwerem auch zerbrechen. Was es bewirkt, dass die einen aus harten Zeiten umso gestärkter und beweglicher, andere jedoch wund und von den vielen Vernarbungen steif, unflexibel und zaudernd hervorgehen, ist Gegenstand anhaltender Forschung.(10) Aber selbst wer keine besonders resiliente Person ist, wird die Erfahrung kennen, dass noch der größte Schmerz an Bitterkeit verliert und Wunden heilen und vernarben, wenn auch selten spurlos verschwinden.(11)

(1) Zuza Speckert (2023): »Gespräch mit Philippe Chappuis alias Zep«, in: NZZ am Sonntag Magazin (20.8.2023), 5. (2) Eine Ausnahme bilden hier die Pragmatisten, insbesondere John Dewey, vgl. dazu etwa Michael Hampe (2017): John Dewey: Erfahrung und Natur, Berlin/Boston: De Gruyter. (3) Dieser Begriff stammt von Jacob Grimm: »Rede über das Alter«, in: Thomas Rentsch und Morris Vollmann (Hg.) (2020): Gutes Leben im Alter. Die philosophischen Grundlagen, Stuttgart: Reclam, 96–113, hier: 108. (4) Pasqualina Perrig-Chiello (2024): Own your Age, Weinheim: Beltz, 196. (5) Hilde Domin stellte diesen Satz ihrem Gedichtzyklus »Nur eine Rose als Stütze« (1957–1959) voran. Siehe Hilde Domin (1987): Gesammelte Gedichte, Frankfurt a. M.: Fischer, 111. (6) Vgl. dazu auch Michel de Montaigne (1969): »Über die Erfahrung«, in: ders.: Essais, 3. Buch, 13. Kapitel, Stuttgart: Reclam, 359–375, hier: 362. (7) Vgl. dazu den kurzen Text von Walter Benjamin mit dem schlichten Titel »Erfahrung«. Benjamin ist einundzwanzig, als er den Text 1913 verfasst. Die Erfahrung, die Erwachsene in Anschlag brächten, sei nur ein Beweis dafür, dass auch sie einmal jung gewesen seien, dass auch sie ihren Eltern nicht geglaubt hätten und sich vom Leben hättenbelehren lassen müssen, schreibt er – und lässt am wohlmeinenden Ratschlag der Erwachsenen kein gutes Haar. Der Text lässt sich einsehen unter <a href="https://www.textlog.de/benjamin/essays/fruehearbeiten/erfahrung" rel="noopener noreferrer">https://www.textlog.de/benjamin/essays/fruehearbeiten/erfahrung</a> (letzter Zugriff: 20.2.2024). (8) Vgl. dazu auch die Ausführungen von Henry David Thoreau, der das Leben als »Experiment« bezeichnet, in dem jede und jeder ihre und seine eigenen Erfahrungen zu machen hat. Henry David Thoreau(2013): Walden. Ein Leben mit der Natur, München: dtv, 14. (9) Vgl. dazu auch Harry Frankfurt (2007): »Uns selbst ernst nehmen«, in: ders.: Sich selbst ernst nehmen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, Erste Vorlesung. (10) Resilienz – jene Gabe, die einen eher gestärkt aus stürmischen Phasen entlässt – scheint eine Kombination zu sein aus frühkindlichen Erfahrungen, genetischen Faktoren, persönlichen Ressourcen und der sozioökonomischen Umgebung, in die jemand gestellt ist. Vgl. dazu die wegweisenden Arbeiten von Boris Cyrulnik (2011): Resilience. How Your Inner Strength Can Set You Free from the Past, London: Penguin, und ders. (2007): Mit Leib und Seele. Wie wir Krisen bewältigen, Hamburg: Hoffmann und Campe. (11) Das beschreibt auch Michel de Montaigne (1969): »Über die Erfahrung«, in: ders.: Essais, 3. Buch, 13. Kapitel, Stuttgart: Reclam, 359–375, hier: 368.

Barbara Bleisch, geboren 1973, lebt mit ihrer Familie in Zürich und ist Mitglied des Ethik-Zentrums der Universität Zürich. Seit 2010 moderiert sie die Sendung Sternstunde Philosophie beim Schweizer Radio und Fernsehen SRF. Von 2017 bis 2019 war sie akademischer Gast am Collegium Helveticum. Bei Hanser erschienen: Warum wir unseren Eltern nichts schulden (2018) und Kinder wollen. über Autonomie und Verantwortung (2020). Zuletzt erschien ebenfalls bei Hanser 2024 ihr Buch: Mitte des Lebens. Eine Philosophie der besten Jahre.

Barbara Bleisch

Mitte des Lebens

Monbijouplatz   Berlin Nenne meinen Namen an der Rezeption  gegenüber waren die Brachen verschwunden  Die Rückseite der Stadt  Das hattest du an dieser Stelle  als wir uns das letzte Mal gesehen haben  im Vorbeigehen gesagt  Die Trams sangen auf den älteren Gleisen  an denen der Asphalt porös wurde  Endstation  In den neuen Hotels konnte man auf den Dächern sitzen   Ich nahm den Fahrstuhl in den dritten Stock  Im Fernsehen fuhr ein Zug die Küste entlang  Draußen wurden die Vögel unruhig  Ein Helikopter kreiste über der Museumsinsel  drehte dann ab und verschwand hinter der Dachkante des Bodemuseums  Ich legte die Finger auf das beschlagene Glas und zeichnete ein Fenster auf die Scheibe    Citronenmond  hast du geschrieben und ein Foto geschickt  See?   Der Halbmond hängt an der Spitze des Doms    Es ist unmöglich  ein Foto vom Mond zu machen  hast du immer gesagt  Fontainedes Danaïdes   Marseille Und bis zur nächsten Straßenecke  wieder nicht weitergewusst  Am Café der Danaïden habe ich auf dich gewartet  Die Plastiktüte zittert in deiner Hand  Diese Fragen  sagst du  würden uns nicht weiterbringen  es gäbe keine Erklärung für diesen plötzlichen Schwindel  Es sei nur so  hast du gesagt  als müsstest du auch dann einen Berg hinaufgehen  wenn die Straßen abschüssig waren  als würdest du auch dann beobachtet  wenn du sichergestellt hättest  dass es keinen Winkel geben könnte  da drüben am Park  an der Mauer  an der Brandmauer des letzten Hauses des Viertels  aus dem du hättest gesehen werden können  Und in roter Farbe an den kleineren Steinen  in denen schon die Fugen fehlten  stand  Und sie sagen  morgen   und die Vögel singen  und lass sie singen   ist ein neuer Tag  Monbijouplatz  Berlin Im Fernsehen zählten sie die Wolken über dem Atlantik  und ich sah die Nachrichten in meiner Hand  Aus der Wand kamen Lieder aus den anderen Zimmern  eine Melodie aus einem Film  die ich wiedererkannte  Nina Simone Sit there  count your fingers / What can you do? // All you can ever count on / Are the raindrops / That fall on little girl blue  In den Nachrichten stand  Tragischer Unfall am Grenzbahnhof  Beim Absprung von einem Güterzug lösten die mutmaßlichen  einen Stromschlag aus   Ein Ort lag immer schon im anderen  Auf meinem Handy fielen Menschen aus dem Himmel in Kabul  Menschen zündeten die Straßen in Paris an  Menschen errichteten Barrikaden und bewachten das Feuer  das schon die ganze Nacht durch brannte  hielten einen Zug an  der auf seinem Bremsweg zu entgleisen drohte  Wir sind verbunden in dieser  verwobenen Welt  die von Europa erdacht worden war  hast du gesagt  und die jetzt in dieser Geschichte der Gewalt von etwas anderem zu träumen versuchte  Ich hatte dir ein Buch versprochen  es bestand diese Hoffnung  dass diese Welt auch eine andere hätte sein können  Du hattest gesagt  Natürlich wirst du dieses Buch nicht beenden  Du würdest alles recherchieren  die unsichtbaren Geometrien zeichnen  und dann über ihnen verzweifeln   Ich dachte an das Penguin Modern Classic von Clarice Lispector  das du auf das Armaturenbrett gelegt hattest  Ich hatte mir den Titel aufgeschrieben und es dann vergessen zu lesen   Ich zog mein Handy aus der Tasche  entsperrte es mit meinem Daumen und strich die Links entlang  die unsortiert in den Notes lagen   Édouard Glissant Auf YouTube überquert Édouard Glissant den Atlantik  Christoph Kolumbus ist in die »Neue Welt« aufgebrochen und ich bin derjenige  der von dort zurückkehrt    Er spricht vom Archipel der sogenannten Antillen  wie in ihrer Struktur die  der Welt schon realisiert sei  Édouard Glissant Die Welt ist unentwirrbar  Gleichzeitig müssen wir uns mit einer Tatsache auseinandersetzen  Unser Standort ist unausweichlich  Der Ort ist entscheidend  Wir schweben nicht in der Luft  Du kannst also nicht hier bleiben und denken  dass du von der Welt getrennt bist  Aber du kannst auch nicht denken  dass die Welt nur hier ist  Wirklich  die Welt ist in mir und ich bin in der Welt  Trocadéro  Paris Wir haben Blumen von den Seiten der Bücher gepflückt  Das war eines unserer Spiele  in diesem anderen Sommer  Wenn wir eine Blume gefunden hatten  schrieben wir den Satz in unsere Handys  May Ayim Ich erinnerte mich an diese Szene  die ich in einem Interview mit May Ayim gesehen hatte  Als sie zum ersten Mal nach Ghana fährt und zum ersten Mal ihren Großvater trifft  sagt er  Ich habe auf dich gewartet  Ich hab dich so vermisst  Ich konnte den Link nicht mehr finden  Linienstraße   Berlin Ich erinnerte mich an dein Zimmer  in dem alles an den Wänden lehnte  Du hattest ein Bild von Rimbaud mit einem Streifen Tesa an der Raufasertapete befestigt  an der Stelle  wo einmal das Regal auf- gehört hat  Seine Augen schauen in die Kamera und sehen so aus  als seien sie geschlossen  Daneben ein Bild  Katharina Oguntoye  May Ayim und Audre Lorde sitzen am HKW am Wasser  May Ayim Später am Abend finde ich den Link  Ich habe mit meinem Großvater gesprochen als wäre er mein bester Freund  obwohl ich ihn nur einen Tag gesehen habe  An dem Tag ist er unsterblich geworden  Ich habe ihn nie wieder gesehen    Ich schreibe eine Erinnerung in mein Handy  dir unbedingt noch Blumen zu kaufen  bevor wir uns morgen sehen würden   Später hast du ein zweites Bild von Rimbaud gefunden  in Harar  in Äthiopien  sechs Autostunden vom Golf von Aden  vor einem Café  Das Bild ist zerkratzt  An der Stelle  an der seine Augen sind  Risse  von einem Fingernagel  einem Stück Metall  einer Münze oder einem Sandkorn in einer Hosentasche    Daneben  Die Postkarte aus den Deichtorhallen in Hamburg  Rothko hat nur dieses eine Selbstporträt gemalt  Vielleicht zeigt es ihn als den blinden Seher Teiresias  Zwei Farbflecken  anstelle seiner Augen    Daneben  Ein Foto von Clarice Lispector auf einem Balkon  das du aus der Ausgabe der Penguin Modern Classics geschnitten hattest  Ihre Augen sind geschlossen  ihre linke Hand liegt auf dem rechten Arm  ihre rechte Hand hält sich an den Blumen fest  Rue de la République   Marseille Im alten Hafen von Marseille  nicht weit von der Einmündung der Uferpromenade in die Rue de la République  sitzt ein alter Mann unter dem neuen Foster­Dach und spielt Serge Gainsbourg für die ersten Reisenden des Tages  Serge Gainsbourg Comme dit si bien Verlaine au Vent Mauvais / Je suis venu te dire que je m’en vais    Wie Verlaine sagte im schlechten Wind / Ich bin gekommen  um dir zu sagen  dass ich gehe Monbijouplatz  Berlin Ich zog meine Notizen aus dem Rucksack  Die losen Blätter  dazwischen ein paar Haare  die an den Enden der Seiten herausragten  Zuletzt das Notizbuch mit dem Rest von Kleber am offenen Rücken  Ich legte mein Handy oben auf diesen unsicheren Stapel   In Vorbereitung auf den  verständigt sich die englische  mit Hilfe der BBC mit dem französischen Widerstand  Sie verwenden das Verlaine­-Gedicht Chanson d’Automne als Code  Die ersten drei Zeilen   Les sanglots longs des violons le l’automne   bedeuten  dass die Landung der  innerhalb von zwei Wochen beginnen wird  diese Zeilen werden am 1  Juni  gesendet  Die nächsten Zeilen werden am 5  Juni  um 23 15 Uhr gesendet  Blessent mon cœur d’une langueur monotone  Sie bedeuten  dass der Widerstand mit gezielten Sabotagen an den Gleisen zum Atlantik anfangen sollte und die Landung innerhalb von 48 Stunden beginnen wird  Piazza di Spagna   Rom Während Giorgio de Chirico ein Jahr später auf der Piazza di Spagna ein Porträt von Clarice Lispector malt  hören sie einen Zeitungsjungen verkünden  dass der  vorbei sei  Museumsinsel   Berlin Ich bin noch einmal zurück zum Fluss gegangen  Kräne am Him­mel  die Museumsinsel im Dunst  Die Gebäude lösten sich in der farblosen Ferne auf  die Züge kamen langsam aus den Häusern hervor  An der Ecke gestanden  und nicht weitergewusst    Lehn dich aus dem Fenster  Dein Oberkörper schwebt über den Gleisen  Rue de la République   Marseille 600 Häuser werden zerstört und 61 Straßen gehen teilweise oder vollständig verloren  als 1862 die Rue de la République entsteht  zunächst als Rue Impériale  indem der Hügel zwischen dem alten und dem neuen Hafen von Marseille auseinandergerissen wird    Durch die Sprengung entsteht eine Brache hinter der Börse  die nur Derrière la Bourse genannt wird  Mitten in der Stadt  dieser Bauch Marseilles  Mitten in der Stadt kann sie nicht halten    In der Reflexion des Spiegeldachs am alten Hafen  Selfies aus unmöglichen Blickwinkeln  Ich lege mich zu den anderen auf den Boden  Mein Kopf fällt zur Seite  Ich sehe die Kirche  den Tabakladen im Seitenschiff  wie die Flugzeuge vom Himmel fallen  und das Graffiti auf dem Nachbarhaus  ein Satz auf der Höhe des Glockenturms  Ya Pas Kelkun Ki Veux Tombé Amoureux de moi? Gibt es nicht jemanden  der sich in mich verlieben will? Ich weiß  dass Tomber auf Französisch Fallen heißt  Ein T­Shirt in der Refle- xion des Spiegeldachs  Over my  body  Deine Hand in meinen Haaren  Let’s read something into it    Während der deutschen Besatzung der Stadt werden die Gebäude südlich der Rue de la République gesprengt  Es ist eine koordinierte Aktion der  und der französischen Polizei  Sie richtet sich gegen die jüdische Bevölkerung des Viertels und die Mitglieder der Résistance  die sich dort verstecken  Etwa 600 Häuser werden gesprengt   Nach dem  wird der ganze Stadtteil als modernistisches Projekt wiederaufgebaut  Die Erzählung der Stunde Null verleugnet  dass es schon unter den  geplant wurde    Vielleicht ist diese Kontinuität unser Thema    Ich gebe das Wort Friche bei DeepL ein  The Wasteland  Govan Road   Glasgow Wir wussten  dass das Gelände  das den Namen eines Wastelands trägt  die Friche  eine alte Tabakfabrik ist  Du hast erzählt  dass sie in Glasgow den Fluss  die Clyde  ausgehoben haben  damit die größeren Schiffe den Tabak aus den Kolonien in die Stadt bringen konnten  Du hast gesagt  dass das Wasser nicht tief genug war   Cimitero Monumentale  Mailand An einem Nachmittag auf dem Cimitero Monumentale in Mailand stieg ohne jegliche Vorahnung ein anderer Nachmittag in Glasgow auf  an dem du in der tiefstehenden Sonne immer aufwärts die Necropolis  die Stadt der Toten  hochgegangen bist und Fotos von deinem Schatten  der zwischen den Steinen auftauchte  gemacht hast  als gehörte er jemand anderem  Du hast die Fotos gepostet   dumb  Place Jaurès  Marseille  Ich gehe weiter  Die Autos am Place Jaurès stehen still  Hitze  Stau  Sauvage  sauvage  sauvage   aus einem Autofenster  Stars von Nina Simone auf den Kopfhörern  Nina Simone Nina Simone singt den Song von Janis Ian beim Jazz­-Festival in Montreux  Es ist ihr erster Auftritt nach acht Jahren  Immer wieder fügt sie eigene Sätze hinzu  Doch irgendwann verweigert sie die Geschichte  die das Lied erzählt  Vielleicht  weil sie den Text vergessen hat  Dann spricht sie davon  dass sie eine Geschichte erzählen soll  Vom Verhältnis zum Publikum  das auf diese Geschichte wartet  Und sie verweigert die Erzählung  Das Lied verschiebt seine eigene Fortsetzung und geht irgendwann im nächsten Lied auf  ohne beendet worden zu sein  Nina Simone  I’m meant to tell about a story since we all have stories but I can’t remember it anyway    Die letzten Jahre ihres Lebens verbringt Nina Simone in der Straße der Zypressen und Pinien  30 Kilometer westlich von Marseille  Auf Instagram das Foto mit den Croissants im Bett  das ihre Tochter Jahre später gepostet hat    Anna Seghers schreibt von dieser Stadt Marseille voller Menschen aus ganz Europa  die verzweifelt versuchen  den  zu entkommen  Die meiste Zeit verbringt der Protagonist in Transit in Cafés  wo er beginnt  Leute zu erkennen  die ebenfalls warten  Transit Ich darf also nur bleiben  wenn ich beweisen kann  dass ich nicht bleiben will    Der Mistral ist ein Fallwind  der sich im Rhône­Tal formt und in diesem Windkanal hohe Geschwindigkeiten aufnimmt  Er formt die Bäume  die sich in Marseille zum Meer beugen  Walter Benjamin So liege ich auf dem Bett  las und rauchte  Mir gegenüber immer dieser Blick in den ventre von Marseille  Die Straße  die ich so oft sah  ist wie ein Schnitt  den ein Messer gezogen hat    Das Herbstlied von Verlaine endet  Paul Verlaine Und ich mache mich auf den Weg  / im stürmischen Wind  / der mich hin und her / treibt  / wie / ein totes Blatt     Abschnitt 2  S  22-28 aus  Fabian Saul  Die Trauer der Tangente  Roman © 2024 MSB Matthes &amp  Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH 

Wovon spricht der Grund, auf dem wir gehen? In Fabian Sauls erstem, zutiefst menschlichem Roman geraten Gewissheiten ins Wanken: Ein Freund stirbt, eine Liebe zerbricht. Die Trauer der Tangente ist ein poetischer Streifzug durch Orte, Referenzen, Erinnerungen ; zwischen Abgründen und Zartheit.Der Text ist durch Wochentage gegliedert und der folgende Auszug ist der zweite Absatz des »Freitag«.

Nenne meinen Namen an der Rezeption, gegenüber waren die Brachen verschwunden. Die Rückseite der Stadt: Das hattest du an dieser Stelle, als wir uns das letzte Mal gesehen haben, im Vorbeigehen gesagt. Die Trams sangen auf den älteren Gleisen, an denen der Asphalt porös wurde, Endstation. In den neuen Hotels konnte man auf den Dächern sitzen. Ich nahm den Fahrstuhl in den dritten Stock. Im Fernsehen fuhr ein Zug die Küste entlang. Draußen wurden die Vögel unruhig. Ein Helikopter kreiste über der Museumsinsel, drehte dann ab und verschwand hinter der Dachkante des Bodemuseums. Ich legte die Finger auf das beschlagene Glas und zeichnete ein Fenster auf die Scheibe.  Citronenmond, hast du geschrieben und ein Foto geschickt. See?  Der Halbmond hängt an der Spitze des Doms.  Es ist unmöglich, ein Foto vom Mond zu machen, hast du immer gesagt.

Und bis zur nächsten Straßenecke: wieder nicht weitergewusst. Am Café der Danaïden habe ich auf dich gewartet. Die Plastiktüte zittert in deiner Hand. Diese Fragen, sagst du, würden uns nicht weiterbringen, es gäbe keine Erklärung für diesen plötzlichen Schwindel. Es sei nur so, hast du gesagt, als müsstest du auch dann einen Berg hinaufgehen, wenn die Straßen abschüssig waren, als würdest du auch dann beobachtet, wenn du sichergestellt hättest, dass es keinen Winkel geben könnte, da drüben am Park, an der Mauer, an der Brandmauer des letzten Hauses des Viertels, aus dem du hättest gesehen werden können. Und in roter Farbe an den kleineren Steinen, in denen schon die Fugen fehlten, stand: Und sie sagen, morgen – und die Vögel singen, und lass sie singen – ist ein neuer Tag.

Im Fernsehen zählten sie die Wolken über dem Atlantik, und ich sah die Nachrichten in meiner Hand. Aus der Wand kamen Lieder aus den anderen Zimmern, eine Melodie aus einem Film, die ich wiedererkannte:

Sit there, count your fingers / What can you do? // All you can ever count on / Are the raindrops / That fall on little girl blue.

In den Nachrichten stand: Tragischer Unfall am Grenzbahnhof. Beim Absprung von einem Güterzug lösten die mutmaßlichen Migranten einen Stromschlag aus. Ein Ort lag immer schon im anderen. Auf meinem Handy fielen Menschen aus dem Himmel in Kabul, Menschen zündeten die Straßen in Paris an, Menschen errichteten Barrikaden und bewachten das Feuer, das schon die ganze Nacht durch brannte, hielten einen Zug an, der auf seinem Bremsweg zu entgleisen drohte. Wir sind verbunden in dieser kolonial verwobenen Welt, die von Europa erdacht worden war, hast du gesagt, und die jetzt in dieser Geschichte der Gewalt von etwas anderem zu träumen versuchte. Ich hatte dir ein Buch versprochen; es bestand diese Hoffnung, dass diese Welt auch eine andere hätte sein können. Du hattest gesagt: Natürlich wirst du dieses Buch nicht beenden. Du würdest alles recherchieren, die unsichtbaren Geometrien zeichnen, und dann über ihnen verzweifeln. Ich dachte an das Penguin Modern Classic von Clarice Lispector, das du auf das Armaturenbrett gelegt hattest. Ich hatte mir den Titel aufgeschrieben und es dann vergessen zu lesen. Ich zog mein Handy aus der Tasche, entsperrte es mit meinem Daumen und strich die Links entlang, die unsortiert in den Notes lagen.

Auf YouTube überquert Édouard Glissant den Atlantik. Christoph Kolumbus ist in die »Neue Welt« aufgebrochen und ich bin derjenige, der von dort zurückkehrt.  Er spricht vom Archipel der sogenannten Antillen, wie in ihrer Struktur die Kreolisierung der Welt schon realisiert sei.

Die Welt ist unentwirrbar. Gleichzeitig müssen wir uns mit einer Tatsache auseinandersetzen: Unser Standort ist unausweichlich. Der Ort ist entscheidend. Wir schweben nicht in der Luft. Du kannst also nicht hier bleiben und denken, dass du von der Welt getrennt bist. Aber du kannst auch nicht denken, dass die Welt nur hier ist. Wirklich, die Welt ist in mir und ich bin in der Welt.

Wir haben Blumen von den Seiten der Bücher gepflückt. Das war eines unserer Spiele, in diesem anderen Sommer. Wenn wir eine Blume gefunden hatten, schrieben wir den Satz in unsere Handys.

Ich erinnerte mich an diese Szene, die ich in einem Interview mit May Ayim gesehen hatte. Als sie zum ersten Mal nach Ghana fährt und zum ersten Mal ihren Großvater trifft, sagt er: Ich habe auf dich gewartet. Ich hab dich so vermisst. Ich konnte den Link nicht mehr finden.

Ich erinnerte mich an dein Zimmer, in dem alles an den Wänden lehnte. Du hattest ein Bild von Rimbaud mit einem Streifen Tesa an der Raufasertapete befestigt, an der Stelle, wo einmal das Regal auf- gehört hat. Seine Augen schauen in die Kamera und sehen so aus, als seien sie geschlossen. Daneben ein Bild: Katharina Oguntoye, May Ayim und Audre Lorde sitzen am HKW am Wasser.

Später am Abend finde ich den Link: Ich habe mit meinem Großvater gesprochen als wäre er mein bester Freund, obwohl ich ihn nur einen Tag gesehen habe. An dem Tag ist er unsterblich geworden. Ich habe ihn nie wieder gesehen.  Ich schreibe eine Erinnerung in mein Handy, dir unbedingt noch Blumen zu kaufen, bevor wir uns morgen sehen würden. Später hast du ein zweites Bild von Rimbaud gefunden: in Harar, in Äthiopien, sechs Autostunden vom Golf von Aden, vor einem Café. Das Bild ist zerkratzt: An der Stelle, an der seine Augen sind: Risse, von einem Fingernagel, einem Stück Metall, einer Münze oder einem Sandkorn in einer Hosentasche.  Daneben: Die Postkarte aus den Deichtorhallen in Hamburg. Rothko hat nur dieses eine Selbstporträt gemalt. Vielleicht zeigt es ihn als den blinden Seher Teiresias. Zwei Farbflecken: anstelle seiner Augen.  Daneben: Ein Foto von Clarice Lispector auf einem Balkon, das du aus der Ausgabe der Penguin Modern Classics geschnitten hattest. Ihre Augen sind geschlossen, ihre linke Hand liegt auf dem rechten Arm, ihre rechte Hand hält sich an den Blumen fest.

Im alten Hafen von Marseille, nicht weit von der Einmündung der Uferpromenade in die Rue de la République, sitzt ein alter Mann unter dem neuen Foster­Dach und spielt Serge Gainsbourg für die ersten Reisenden des Tages:

Comme dit si bien Verlaine au Vent Mauvais / Je suis venu te dire que je m’en vais.  Wie Verlaine sagte im schlechten Wind / Ich bin gekommen, um dir zu sagen, dass ich gehe

Ich zog meine Notizen aus dem Rucksack. Die losen Blätter, dazwischen ein paar Haare, die an den Enden der Seiten herausragten. Zuletzt das Notizbuch mit dem Rest von Kleber am offenen Rücken. Ich legte mein Handy oben auf diesen unsicheren Stapel. In Vorbereitung auf den D-­Day verständigt sich die englische Armee mit Hilfe der BBC mit dem französischen Widerstand. Sie verwenden das Verlaine­-Gedicht Chanson d’Automne als Code. Die ersten drei Zeilen – Les sanglots longs des violons le l’automne – bedeuten: dass die Landung der Alliierten innerhalb von zwei Wochen beginnen wird; diese Zeilen werden am 1. Juni 1944 gesendet. Die nächsten Zeilen werden am 5. Juni 1944 um 23:15 Uhr gesendet: Blessent mon cœur d’une langueur monotone. Sie bedeuten: dass der Widerstand mit gezielten Sabotagen an den Gleisen zum Atlantik anfangen sollte und die Landung innerhalb von 48 Stunden beginnen wird.

Während Giorgio de Chirico ein Jahr später auf der Piazza di Spagna ein Porträt von Clarice Lispector malt, hören sie einen Zeitungsjungen verkünden, dass der Krieg vorbei sei.

Ich bin noch einmal zurück zum Fluss gegangen, Kräne am Him­mel, die Museumsinsel im Dunst. Die Gebäude lösten sich in der farblosen Ferne auf, die Züge kamen langsam aus den Häusern hervor. An der Ecke gestanden, und nicht weitergewusst.  Lehn dich aus dem Fenster: Dein Oberkörper schwebt über den Gleisen.

600 Häuser werden zerstört und 61 Straßen gehen teilweise oder vollständig verloren, als 1862 die Rue de la République entsteht, zunächst als Rue Impériale, indem der Hügel zwischen dem alten und dem neuen Hafen von Marseille auseinandergerissen wird.  Durch die Sprengung entsteht eine Brache hinter der Börse, die nur Derrière la Bourse genannt wird. Mitten in der Stadt, dieser Bauch Marseilles: Mitten in der Stadt kann sie nicht halten.  In der Reflexion des Spiegeldachs am alten Hafen: Selfies aus unmöglichen Blickwinkeln. Ich lege mich zu den anderen auf den Boden. Mein Kopf fällt zur Seite. Ich sehe die Kirche, den Tabakladen im Seitenschiff, wie die Flugzeuge vom Himmel fallen, und das Graffiti auf dem Nachbarhaus; ein Satz auf der Höhe des Glockenturms: Ya Pas Kelkun Ki Veux Tombé Amoureux de moi? Gibt es nicht jemanden, der sich in mich verlieben will? Ich weiß, dass Tomber auf Französisch Fallen heißt. Ein T­Shirt in der Refle- xion des Spiegeldachs: Over my dead body. Deine Hand in meinen Haaren: Let’s read something into it.  Während der deutschen Besatzung der Stadt werden die Gebäude südlich der Rue de la République gesprengt. Es ist eine koordinierte Aktion der Nazis und der französischen Polizei. Sie richtet sich gegen die jüdische Bevölkerung des Viertels und die Mitglieder der Résistance, die sich dort verstecken. Etwa 600 Häuser werden gesprengt. Nach dem Krieg wird der ganze Stadtteil als modernistisches Projekt wiederaufgebaut. Die Erzählung der Stunde Null verleugnet, dass es schon unter den Faschisten geplant wurde.  Vielleicht ist diese Kontinuität unser Thema.  Ich gebe das Wort Friche bei DeepL ein: The Wasteland.

Wir wussten, dass das Gelände, das den Namen eines Wastelands trägt, die Friche, eine alte Tabakfabrik ist. Du hast erzählt, dass sie in Glasgow den Fluss, die Clyde, ausgehoben haben, damit die größeren Schiffe den Tabak aus den Kolonien in die Stadt bringen konnten. Du hast gesagt, dass das Wasser nicht tief genug war. 

An einem Nachmittag auf dem Cimitero Monumentale in Mailand stieg ohne jegliche Vorahnung ein anderer Nachmittag in Glasgow auf, an dem du in der tiefstehenden Sonne immer aufwärts die Necropolis, die Stadt der Toten, hochgegangen bist und Fotos von deinem Schatten, der zwischen den Steinen auftauchte, gemacht hast, als gehörte er jemand anderem. Du hast die Fotos gepostet: Cemetery dumb.

Ich gehe weiter. Die Autos am Place Jaurès stehen still. Hitze. Stau. Sauvage, sauvage, sauvage – aus einem Autofenster, Stars von Nina Simone auf den Kopfhörern.

Nina Simone singt den Song von Janis Ian beim Jazz­-Festival in Montreux. Es ist ihr erster Auftritt nach acht Jahren. Immer wieder fügt sie eigene Sätze hinzu. Doch irgendwann verweigert sie die Geschichte, die das Lied erzählt. Vielleicht, weil sie den Text vergessen hat. Dann spricht sie davon, dass sie eine Geschichte erzählen soll. Vom Verhältnis zum Publikum, das auf diese Geschichte wartet. Und sie verweigert die Erzählung. Das Lied verschiebt seine eigene Fortsetzung und geht irgendwann im nächsten Lied auf, ohne beendet worden zu sein.

I’m meant to tell about a story since we all have stories but I can’t remember it anyway.  Die letzten Jahre ihres Lebens verbringt Nina Simone in der Straße der Zypressen und Pinien, 30 Kilometer westlich von Marseille. Auf Instagram das Foto mit den Croissants im Bett, das ihre Tochter Jahre später gepostet hat.  Anna Seghers schreibt von dieser Stadt Marseille voller Menschen aus ganz Europa, die verzweifelt versuchen, den Nazis zu entkommen. Die meiste Zeit verbringt der Protagonist in Transit in Cafés, wo er beginnt, Leute zu erkennen, die ebenfalls warten:

Ich darf also nur bleiben, wenn ich beweisen kann, dass ich nicht bleiben will.  Der Mistral ist ein Fallwind, der sich im Rhône­Tal formt und in diesem Windkanal hohe Geschwindigkeiten aufnimmt. Er formt die Bäume, die sich in Marseille zum Meer beugen.

So liege ich auf dem Bett; las und rauchte. Mir gegenüber immer dieser Blick in den ventre von Marseille. Die Straße, die ich so oft sah, ist wie ein Schnitt, den ein Messer gezogen hat.  Das Herbstlied von Verlaine endet:

Und ich mache mich auf den Weg, / im stürmischen Wind, / der mich hin und her / treibt, / wie / ein totes Blatt.

Fabian Saul, geboren 1986, ist Autor, Komponist und Chefredakteur des vielfach ausgezeichneten Magazins Flaneur. Das Magazin, das sich in jeder Ausgabe einer Strasse der Welt widmet, verfolgt einen kollaborativen und interdisziplinären Ansatz, der sich auch in Sauls Arbeit wiederfindet. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit arbeitet er als Komponist und Songwriter. Seine Musik erscheint unter seinem Künstlernamen SAUL. Seine Arbeit wurde u.a. mit der Alfred-Döblin-Medaille, dem Stipendium der Roger-Willemsen-Stiftung und dem Harald-Gerlach-Stipendium ausgezeichnet.

Fabian Saul

Die Trauer der Tangente

Am Morgen wache ich mit einer dreckigen Erkältung auf  ich brauche kurz  um zu checken  wo ich bin  und atme ein bisschen erleichtert aus  als ich checke  wo ich bin  Heute gehe ich vielleicht mit Marianne walken  Obwohl die Nase zu ist  rieche ich den Duft von aufgebackenen Brötchen und Kaffee  folge ihm ins Esszimmer und weiß zunächst nicht  wie ich mich zu dem Frühstückstisch verhalten soll  den ich sehe  Ein Korb mit Brötchen  Marmelade mit roten Plastiklöffeln darin  Honig  ein Teller mit Käseaufschnitt  ein Teller mit Wurstaufschnitt  Butter in einer silbernen Butterschale  weiße Eszet-Schnitten  Ich wusste gar nicht  dass es die in Weiß gibt  Zusammenpassende  mit Papageien und Blumen bemalte Teller  Untertassen und Tassen  Dreimal  Ich schaue zu Knut  dann zu Marianne  die wiederum beide zu mir schauen  und dann zu dem Papagei auf dem dritten  noch leeren Teller  Knut sitzt auf dem Stuhl  auf dem ich gestern saß  mit dem Blick zum Fenster  Marianne gegenüber  Ich  Morgen   Knut  Moin  Marianne  Wie gehts dir  Liebes? Ich  Besser  Bisschen erkältet  Ich kann heute wieder zurück ins Hostel  Danke noch mal für alles  Marianne  Setz dich doch erst mal  Die Brötchen sind warm  und als ich eins aufschneide und Butter draufschmiere  schmilzt sie sofort  Ich lege eine weiße Eszet-Schnitte darauf  Ich  Ich wusste gar nicht  dass es die in Weiß gibt   Marianne  Knut liebt weiße Schokolade  Ich schiebe die warme Brötchenscheibe mit der anschmelzenden weißen Eszet-Schnitte in den Mund und schließe kurz die Augen  weil das so gut schmeckt  »Hätte ich nicht gedacht  dass du so was magst«  sage ich zu Knut   Marianne  Wieso? Ida  Weiß nicht  Knut ist doch eher der salzige Typ  oder? Ich schaue zu Knut  der sein Brötchen jetzt auch mit einer Eszet-Schnitte belegt  Ich  Und wenn Süßigkeiten  dann Lakritz oder ganz bittere Schokolade  80 Prozent mindestens  Marianne schmunzelt  Knut schmunzelt nicht  Marianne  Du kannst gerne hierbleiben  Das Zimmer ist leer  Also wie du magst  Knut  Ich kann deine Sachen nachher vom Hostel abholen  »Okay«  sage ich mit keinen Tränen in den Augen    Die Sonne scheint  als hätte es nie einen Sturm gegeben  während Marianne und ich nebeneinander den Bürgersteig entlang Richtung Wald walken  Mit den Nordic-Walking-Stöcken  auf die ich bestanden habe  laufe ich zwei Schritte pro Bordstein und denke an Tilda und das Märchenspiel  Ich  Mit Tilda habe ich oft so ein Spiel gespielt  Ich  Immer wenn man die andere auf dem Bordstein überholt hat  durfte man weitererzählen  bis man wieder überholt wurde  Ich  Meistens Märchen  Marianne und ich walken in den Wald hinein   Ich  Mit Tilda war ich auch oft im Wald  Der Wald hier ist ganz anders  Nicht so hügelig  dichte Buchenwälder und neben Wald- auch noch Meeresluft  Tilda und ich mussten immer erst einen langen Weg steil bergauf steigen  Marianne  Und jetzt seid ihr nicht mehr oft im Wald? Marianne linst vorsichtig zu mir rüber  hat wahrscheinlich Angst  dass Tilda auch  ist  Ich  Tilda ist irgendwann nach Berlin gezogen  um zu promovieren   Marianne  Wie alt warst du  als sie weggezogen ist? Ich  Elf  Der Tag  als Tilda wegzog  war schlimm  Es war ein Januartag  Ich wurde vom Schneeschippgeräusch geweckt  Das war normalerweise eins der aufregendsten Geräusche  Ich erinnere mich  wie ich oft im Bett lag  dieses Geräusch hörte und es nicht abwarten konnte  zum Fenster zu springen  und extra ein bisschen länger liegen blieb  um die Spannung noch zu steigern  Normalerweise stapften Tilda und ich an diesen Tagen am Wochenende gleich morgens und unter der Woche nach der Schule mit dem alten Holzschlitten in den Wald  den steilen Weg ganz hoch hinauf  und bretterten dann runter  Mit so viel Glück im Bauch  dass ich die ganze Zeit lachen musste und Schluckauf bekam  Aber an diesem Januartag  als das erste Mal im Winter Schnee lag  wollte ich nicht zum Fenster springen  Mir war schlecht  Es klopfte zweimal schnell  kurze Pause  dreimal langsam  und Tilda stand in der Tür   Tilda  Hast du schon aus dem Fenster geschaut?Ich  Gleich  Tilda  Wollen wir noch schnell Schlitten fahren  bevor ich …  Tilda  … fahre? Ich schüttelte den Kopf  Ich hasse mich immer noch dafür  mich so benommen zu haben  aber es ging nicht anders  Am Abend zuvor hatte ich auf ihre Frage  ob ich meine Matratze in ihr Zimmer schieben und die letzte Nacht bei ihr schlafen wollte  auch den Kopf geschüttelt  obwohl ich es so sehr wollte  Ich sehe  wie sie sich zu mir ans Bett kniet  meine Hand in ihre nimmt und sagt  »Ida  Ich komme ganz oft her  du kommst ganz oft nach Berlin in deinen Ferien  und wenn es nicht funktioniert  dann ziehe ich wieder zurück « Ich nicke  weil ich ja auch will  dass sie nach Berlin geht  weil sie das verdient hat  Aber die Traurigkeit ist so stark  weil ich nicht will  dass sie nach Berlin geht  weil ich sie so lieb habe  Ich sehe  wie ich später vom Fenster aus dem schwarzen Schiff von Viktor zuschaue  als es sich von dem Haus in der Fröhlichstraße 37 entfernt  wie ich dann den Schneeflocken zuschaue  bis ich irgendwann in die Küche gehe  mir ein Nutella-Toast schmiere und es kurz in die Mikrowelle schiebe  Marianne  Und ab da warst du allein mit deiner Mutter?  Ich  Ja  meistens  Mit dem Nutella-Toast setze ich mich zu Mama aufs Sofa und schaue mit ihr Punkt 12  Katja Burkard redet vom Schneechaos und Neujahrsvorsätzen  und Mama fragt mich  ob ich heute keine Schule hätte  »Weihnachtsferien«  antworte ich  Ich  Ab und zu waren Typen von Mama da   Ich  Und Tilda kam oft vorbei  In der vorlesungsfreien Zeit war Tilda immer länger da  und in meinen Ferien war ich meistens bei ihr  Das war schön  Ich  Manchmal auch mit Viktor   Ich  Viktor ist Tildas Freund  Zu dritt sind wir dann ins Frei- oder Hallenbad gegangen  So wie früher  Ich  Viktor und Tilda haben sich im Freibad kennengelernt  Ich hole den Juniabend immer gern hervor  als die beiden sich so angestarrt haben  Auch jetzt tauche ich durchs Becken  und als ich in einer Verschnaufpause zu Tildas Bank schaue  um mir Lob und Bewunderung für meine Tauchkünste abzuholen  bekomme ich kein Lob und keine Bewunderung  weil sie wo ganz anders ist  Tildas Augen blicken fast wütend zu dem Schwimmer  der auf dem Block sitzt  Und der Schwimmer blickt zu Tilda  Der Schwimmer schmunzelt  steht auf  macht einen Köpfer und krault ohne Pause  Schneller als Tilda  »Mit Tilda war ich immer im Freibad  wenn es geregnet hat«  füge ich hinzu  Marianne verunsichert mich ein bisschen  Ich frage mich  ob sie den ganzen Mist überhaupt hören will oder mich einfach nur aus Höflichkeit brabbeln lässt und das Ganze hier mehr so eine Art Eigentherapie ist  Ich weiß noch  wie er Tilda damals nachts nach Hause gebracht hat  als ich allein mit Mama war und sie ausgerastet ist  Tildas Gesicht  als ich gefragt habe  warum der Schwimmer noch vor unserem Haus steht  und wie sie vom Bett zum Fenster gesprungen ist  Ich wusste schon damals als Zehnjährige  dass ich da bei was Großem dabei bin  Ich  Sie haben inzwischen Zwillinge  Die sind fünf  Ich  Sie sind später auch noch ein paarmal mit Niko und Vana zu Besuch gekommen  Aber dann meistens nur zwei oder eine Nacht  weil unsere Wohnung so klein ist  War  Und weil das mit den Kindern in unserer Wohnung mit Mama und so einfach nicht gepasst hat  denke ich  Einmal hat Vana den Klaras-Bücherstuben-Beutel für sich entdeckt und sich die Hände aufgeschnitten beim Spielen mit einer leeren Wodka-Flasche  Mama war meistens angetrunken oder betrunken und konnte mit den beiden Kindern nichts anfangen  »Süß«  »Süß  die kleinen Racker«  hat sie immer nur gesagt und die kleinen Racker nicht in den Arm genommen oder gestreichelt  wie man das eigentlich als Großmutter machen würde  wenn man seine Enkelkinder süß findet  Ich glaube  Tilda und Viktor wollten nicht  dass Vana und Niko das so mitbekommen  dass sie ihre Großmutter noch besser kennenlernen  und dann ist Tilda immer öfter allein gekommen  Ich  Mit den Kleinen waren wir auch mal im Freibad  Marianne  Und als Tilda weggezogen ist  bist du dann auch noch ins Freibad gegangen? Marianne stellt gute Fragen   Ich  Erst mal nicht Ich  Aber später dann wieder  Ich  Tilda und Viktors Kennenlerngeschichte war wie in so einem Film oder Roman  Irgendwann Marianne  Wie war das denn für dich  als du plötzlich allein mit deiner Mutter warst? Ich  Ganz okay Es war nicht immer schlimm  Am Anfang war es wirklich ganz okay  So richtig schlimm wurde es erst später  An dem Januartag  als Tilda ging  sagte Mama  »Dann waren es nur noch zwei«  Wir saßen bestimmt schon drei Stunden neben- einander auf dem Sofa  und Katja Burkard redete nicht mehr  Inzwischen lief Shopping Queen  Frankfurt  Motto  »Ob Stilettos  Peeptoes oder Plateau-Pumps   setz dich und deine neuen High Heels in Szene!« Lisa  34  kämpfte an diesem Tag um die Krone   Ich  Denkst du  wir schaffen das ohne Tilda? Mama drehte sich zu mir  und in ihrem Gesicht sah ich die Angst  die ich auch spürte Mama  Wir versuchen es  oder? Lisa entschied sich für goldene Peeptoes  Ich  Isst du nachher mit mir zusammen Abendbrot?  Mama strich mir über die Haare  Natürlich  meine Kleine   Ich aß an dem Abend allein Aber am ersten Schultag nach den Weihnachtsferien kam ich mittags nach Hause  und es gab Pfannkuchen mit Zimt und Zucker  Ich  Am ersten Schultag nach den Weihnachtsferien hat Mama mal Pfannkuchen gebacken  Wir walken schweigend durch den Wald  und ich ärgere mich  dass ich so viel preisgebe  habe Angst  dass ich Marianne verschrecke mit meinen komischen Geschichten    Zurück in meinem Zimmer  setze ich mich mit meinem Smartphone aufs Bett  öffne die Einstellungen  schaue den grünen Flugmodus-Schalter an  habe vor allem Angst vor Tilda und schiebe ihn nach links  Elf Nachrichten von Samara    das mit dem Flugmodus habe ich ihr nicht gesagt  Eine Nachricht von Viktor  Ok  pass auf dich auf  Und nur zwei Nachrichten von Tilda  ich mache mir sorgen  ich hab dich lieb  Ich schreibe Tilda  Mir gehts gut Tilda  wo bist du? Ich  Ich wohne bei Marianne und Knut Tilda  du wohnst bei marianne und knut??? Ich  Chill  Marianne und Knut sind cool Tilda ruft an  und ich geh nicht ran  Tilda ruft wieder an  und ich geh ran  Tilda  Ida? Ich  Tilda  Ich will nicht telefonieren   Tilda  Wo bist du? Auf Rügen? Wie hat sie das denn rausgefunden? Ich  Nein  Ich bin auf Sylt  Ich leg jetzt auf   Tilda  Warte  Tilda  Ida  Du musst da gerade nicht allein durch  Komm zu uns   Ida  Doch  ich muss da allein durch  Tilda  Aber wieso? Ida  Weil ich jetzt allein sein will   Tilda  Ida  Ida  Und weil ich eben allein bin  Tilda  Du bist nicht schuld  Sie war am Ende   Tilda  Und Ida  eins noch  Tilda  Das ist so stark von dir  dass du bis zum Schluss bei ihr geblieben bist  Ich spüre  wie der Wutklumpen im Bauch schwer und heiß wird  Dieser Satz macht mich jedes Mal so wütend  ich kann gar nicht genau erklären  wieso  Tilda war nicht bis zum Schluss da  sie war am Schluss gar nicht da  aber deswegen bin ich nicht wütend  Gar nicht  Sie hat einfach nicht das Recht  es gut oder stark oder was auch immer zu finden  dass ich bis zum Schluss bei ihr geblieben bin  Bei ihr zu bleiben war keine Entscheidung oder bewusste Tat von meiner Seite  Es ging einfach nicht anders  Weggehen ging nicht  Ich kann nicht reden   Tilda  Ida? Ich flüstere  Ich leg auf  Tilda   Tilda  Ich hab dich lieb  »Auch«  flüstere ich  lege auf und lasse mich aufs Bett fallen  Ich will zu Tilda  aber ich kann nicht  Ich will allein sein  aber ich will nicht allein sein  Und ich weiß nicht  was dieser  soll  Jetzt  wo ich das Smartphone wieder benutzen kann  schaue ich in der Wetter-App  wann die Sonne morgen aufgeht  4 30 Uhr  das ist früh  Am Abendbrottisch mit Marianne verkünde ich  »Ab morgen früh gehe ich wieder schwimmen « Die Nacht ist wie immer schrecklich  und als der Wecker um 4 20 Uhr endlich klingelt  springe ich erleichtert auf  schlüpfe in Badeanzug und Pullover und renne zum Strand  Als ich in die aufgehende Sonne am Horizont blicke  atme ich tief ein und bleibe kurz stehen  Dann renne ich in die ruhige Ostsee  Als ich mich ausgepowert und leer in den Sand lege und in den orange-hellblauen Himmel blicke  ist kurz alles gut   Aus  Caroline Wahl  Windstärke 17 © 2024 DuMont Buchverlag  Köln  S  63-71  

Ida hat nichts bei sich außer dem alten, verschrammten Hartschalenkoffer ihrer Mutter, ein paar Lieblingsklamotten und ihrem MacBook, als sie ihr Zuhause verlässt. Es ist wahrscheinlich ein Abschied für immer von der Kleinstadt, in der sie ihr ganzes bisheriges Leben verbracht hat. Im Abschiednehmen ist Ida richtig schlecht; sie hat es vor zwei Monaten nicht einmal auf die Beerdigung ihrer Mutter geschafft. Am Bahnhof sucht sie sich den Zug aus, der am weitesten wegfährt – auf keinen Fall will sie zu ihrer Schwester Tilda nach Hamburg –, und landet auf Rügen. Ohne Plan, nur mit einem großen Klumpen aus Wut, Trauer und Schuld im Bauch, streift sie über die Ostseeinsel. Und trifft schließlich auf Knut, den örtlichen Kneipenbesitzer, und seine Frau Marianne, die Ida kurzerhand bei sich aufnehmen. Der folgende Ausschnitt aus Windstärke 17 ist eine Szene am Frühstückstisch, die von den kleinen Momenten der Wärme in sonst so verkorksten Zeiten erzählt.

Am Morgen wache ich mit einer dreckigen Erkältung auf, ich brauche kurz, um zu checken, wo ich bin, und atme ein bisschen erleichtert aus, als ich checke, wo ich bin. Heute gehe ich vielleicht mit Marianne walken. Obwohl die Nase zu ist, rieche ich den Duft von aufgebackenen Brötchen und Kaffee, folge ihm ins Esszimmer und weiß zunächst nicht, wie ich mich zu dem Frühstückstisch verhalten soll, den ich sehe. Ein Korb mit Brötchen, Marmelade mit roten Plastiklöffeln darin, Honig, ein Teller mit Käseaufschnitt, ein Teller mit Wurstaufschnitt, Butter in einer silbernen Butterschale, weiße Eszet-Schnitten. Ich wusste gar nicht, dass es die in Weiß gibt. Zusammenpassende, mit Papageien und Blumen bemalte Teller, Untertassen und Tassen. Dreimal. Ich schaue zu Knut, dann zu Marianne, die wiederum beide zu mir schauen, und dann zu dem Papagei auf dem dritten, noch leeren Teller. Knut sitzt auf dem Stuhl, auf dem ich gestern saß, mit dem Blick zum Fenster, Marianne gegenüber. Ich: Morgen. Knut: Moin. Marianne: Wie gehts dir, Liebes? Ich: Besser. Bisschen erkältet. Ich kann heute wieder zurück ins Hostel. Danke noch mal für alles. Marianne: Setz dich doch erst mal. Die Brötchen sind warm, und als ich eins aufschneide und Butter draufschmiere, schmilzt sie sofort. Ich lege eine weiße Eszet-Schnitte darauf. Ich: Ich wusste gar nicht, dass es die in Weiß gibt. Marianne: Knut liebt weiße Schokolade. Ich schiebe die warme Brötchenscheibe mit der anschmelzenden weißen Eszet-Schnitte in den Mund und schließe kurz die Augen, weil das so gut schmeckt. »Hätte ich nicht gedacht, dass du so was magst«, sage ich zu Knut. Marianne: Wieso? Ida: Weiß nicht. Knut ist doch eher der salzige Typ, oder? Ich schaue zu Knut, der sein Brötchen jetzt auch mit einer Eszet-Schnitte belegt. Ich: Und wenn Süßigkeiten, dann Lakritz oder ganz bittere Schokolade. 80 Prozent mindestens. Marianne schmunzelt. Knut schmunzelt nicht. Marianne: Du kannst gerne hierbleiben. Das Zimmer ist leer. Also wie du magst. Knut: Ich kann deine Sachen nachher vom Hostel abholen. »Okay«, sage ich mit keinen Tränen in den Augen.  Die Sonne scheint, als hätte es nie einen Sturm gegeben, während Marianne und ich nebeneinander den Bürgersteig entlang Richtung Wald walken. Mit den Nordic-Walking-Stöcken, auf die ich bestanden habe, laufe ich zwei Schritte pro Bordstein und denke an Tilda und das Märchenspiel. Ich: Mit Tilda habe ich oft so ein Spiel gespielt. Ich: Immer wenn man die andere auf dem Bordstein überholt hat, durfte man weitererzählen, bis man wieder überholt wurde. Ich: Meistens Märchen. Marianne und ich walken in den Wald hinein. Ich: Mit Tilda war ich auch oft im Wald. Der Wald hier ist ganz anders. Nicht so hügelig, dichte Buchenwälder und neben Wald- auch noch Meeresluft. Tilda und ich mussten immer erst einen langen Weg steil bergauf steigen. Marianne: Und jetzt seid ihr nicht mehr oft im Wald? Marianne linst vorsichtig zu mir rüber, hat wahrscheinlich Angst, dass Tilda auch tot ist. Ich: Tilda ist irgendwann nach Berlin gezogen, um zu promovieren. Marianne: Wie alt warst du, als sie weggezogen ist? Ich: Elf. Der Tag, als Tilda wegzog, war schlimm. Es war ein Januartag. Ich wurde vom Schneeschippgeräusch geweckt. Das war normalerweise eins der aufregendsten Geräusche. Ich erinnere mich, wie ich oft im Bett lag, dieses Geräusch hörte und es nicht abwarten konnte, zum Fenster zu springen, und extra ein bisschen länger liegen blieb, um die Spannung noch zu steigern. Normalerweise stapften Tilda und ich an diesen Tagen am Wochenende gleich morgens und unter der Woche nach der Schule mit dem alten Holzschlitten in den Wald, den steilen Weg ganz hoch hinauf, und bretterten dann runter. Mit so viel Glück im Bauch, dass ich die ganze Zeit lachen musste und Schluckauf bekam. Aber an diesem Januartag, als das erste Mal im Winter Schnee lag, wollte ich nicht zum Fenster springen. Mir war schlecht. Es klopfte zweimal schnell, kurze Pause, dreimal langsam, und Tilda stand in der Tür. Tilda: Hast du schon aus dem Fenster geschaut?Ich: Gleich. Tilda: Wollen wir noch schnell Schlitten fahren, bevor ich … Tilda: … fahre? Ich schüttelte den Kopf. Ich hasse mich immer noch dafür, mich so benommen zu haben, aber es ging nicht anders. Am Abend zuvor hatte ich auf ihre Frage, ob ich meine Matratze in ihr Zimmer schieben und die letzte Nacht bei ihr schlafen wollte, auch den Kopf geschüttelt, obwohl ich es so sehr wollte. Ich sehe, wie sie sich zu mir ans Bett kniet, meine Hand in ihre nimmt und sagt: »Ida. Ich komme ganz oft her, du kommst ganz oft nach Berlin in deinen Ferien, und wenn es nicht funktioniert, dann ziehe ich wieder zurück.« Ich nicke, weil ich ja auch will, dass sie nach Berlin geht, weil sie das verdient hat. Aber die Traurigkeit ist so stark, weil ich nicht will, dass sie nach Berlin geht, weil ich sie so lieb habe. Ich sehe, wie ich später vom Fenster aus dem schwarzen Schiff von Viktor zuschaue, als es sich von dem Haus in der Fröhlichstraße 37 entfernt, wie ich dann den Schneeflocken zuschaue, bis ich irgendwann in die Küche gehe, mir ein Nutella-Toast schmiere und es kurz in die Mikrowelle schiebe. Marianne: Und ab da warst du allein mit deiner Mutter? Ich: Ja, meistens. Mit dem Nutella-Toast setze ich mich zu Mama aufs Sofa und schaue mit ihr Punkt 12. Katja Burkard redet vom Schneechaos und Neujahrsvorsätzen, und Mama fragt mich, ob ich heute keine Schule hätte. »Weihnachtsferien«, antworte ich. Ich: Ab und zu waren Typen von Mama da. Ich: Und Tilda kam oft vorbei. In der vorlesungsfreien Zeit war Tilda immer länger da, und in meinen Ferien war ich meistens bei ihr. Das war schön. Ich: Manchmal auch mit Viktor. Ich: Viktor ist Tildas Freund. Zu dritt sind wir dann ins Frei- oder Hallenbad gegangen. So wie früher. Ich: Viktor und Tilda haben sich im Freibad kennengelernt. Ich hole den Juniabend immer gern hervor, als die beiden sich so angestarrt haben. Auch jetzt tauche ich durchs Becken, und als ich in einer Verschnaufpause zu Tildas Bank schaue, um mir Lob und Bewunderung für meine Tauchkünste abzuholen, bekomme ich kein Lob und keine Bewunderung, weil sie wo ganz anders ist. Tildas Augen blicken fast wütend zu dem Schwimmer, der auf dem Block sitzt. Und der Schwimmer blickt zu Tilda. Der Schwimmer schmunzelt, steht auf, macht einen Köpfer und krault ohne Pause. Schneller als Tilda. »Mit Tilda war ich immer im Freibad, wenn es geregnet hat«, füge ich hinzu. Marianne verunsichert mich ein bisschen. Ich frage mich, ob sie den ganzen Mist überhaupt hören will oder mich einfach nur aus Höflichkeit brabbeln lässt und das Ganze hier mehr so eine Art Eigentherapie ist. Ich weiß noch, wie er Tilda damals nachts nach Hause gebracht hat, als ich allein mit Mama war und sie ausgerastet ist. Tildas Gesicht, als ich gefragt habe, warum der Schwimmer noch vor unserem Haus steht, und wie sie vom Bett zum Fenster gesprungen ist. Ich wusste schon damals als Zehnjährige, dass ich da bei was Großem dabei bin. Ich: Sie haben inzwischen Zwillinge. Die sind fünf. Ich: Sie sind später auch noch ein paarmal mit Niko und Vana zu Besuch gekommen. Aber dann meistens nur zwei oder eine Nacht, weil unsere Wohnung so klein ist. War. Und weil das mit den Kindern in unserer Wohnung mit Mama und so einfach nicht gepasst hat, denke ich. Einmal hat Vana den Klaras-Bücherstuben-Beutel für sich entdeckt und sich die Hände aufgeschnitten beim Spielen mit einer leeren Wodka-Flasche. Mama war meistens angetrunken oder betrunken und konnte mit den beiden Kindern nichts anfangen. »Süß«, »Süß, die kleinen Racker«, hat sie immer nur gesagt und die kleinen Racker nicht in den Arm genommen oder gestreichelt, wie man das eigentlich als Großmutter machen würde, wenn man seine Enkelkinder süß findet. Ich glaube, Tilda und Viktor wollten nicht, dass Vana und Niko das so mitbekommen, dass sie ihre Großmutter noch besser kennenlernen, und dann ist Tilda immer öfter allein gekommen. Ich: Mit den Kleinen waren wir auch mal im Freibad. Marianne: Und als Tilda weggezogen ist, bist du dann auch noch ins Freibad gegangen? Marianne stellt gute Fragen. Ich: Erst mal nicht.Ich: Aber später dann wieder. Ich: Tilda und Viktors Kennenlerngeschichte war wie in so einem Film oder Roman. Irgendwann Marianne: Wie war das denn für dich, als du plötzlich allein mit deiner Mutter warst? Ich: Ganz okay.Es war nicht immer schlimm. Am Anfang war es wirklich ganz okay. So richtig schlimm wurde es erst später. An dem Januartag, als Tilda ging, sagte Mama: »Dann waren es nur noch zwei«. Wir saßen bestimmt schon drei Stunden neben- einander auf dem Sofa, und Katja Burkard redete nicht mehr. Inzwischen lief Shopping Queen. Frankfurt. Motto: »Ob Stilettos, Peeptoes oder Plateau-Pumps – setz dich und deine neuen High Heels in Szene!« Lisa, 34, kämpfte an diesem Tag um die Krone. Ich: Denkst du, wir schaffen das ohne Tilda? Mama drehte sich zu mir, und in ihrem Gesicht sah ich die Angst, die ich auch spürte.Mama: Wir versuchen es, oder? Lisa entschied sich für goldene Peeptoes. Ich: Isst du nachher mit mir zusammen Abendbrot? Mama strich mir über die Haare: Natürlich, meine Kleine. Ich aß an dem Abend allein.Aber am ersten Schultag nach den Weihnachtsferien kam ich mittags nach Hause, und es gab Pfannkuchen mit Zimt und Zucker. Ich: Am ersten Schultag nach den Weihnachtsferien hat Mama mal Pfannkuchen gebacken. Wir walken schweigend durch den Wald, und ich ärgere mich, dass ich so viel preisgebe, habe Angst, dass ich Marianne verschrecke mit meinen komischen Geschichten.  Zurück in meinem Zimmer, setze ich mich mit meinem Smartphone aufs Bett, öffne die Einstellungen, schaue den grünen Flugmodus-Schalter an, habe vor allem Angst vor Tilda und schiebe ihn nach links. Elf Nachrichten von Samara. Fuck, das mit dem Flugmodus habe ich ihr nicht gesagt. Eine Nachricht von Viktor: Ok, pass auf dich auf. Und nur zwei Nachrichten von Tilda: ich mache mir sorgen, ich hab dich lieb. Ich schreibe Tilda: Mir gehts gut Tilda: wo bist du? Ich: Ich wohne bei Marianne und Knut Tilda: du wohnst bei marianne und knut??? Ich: Chill, Marianne und Knut sind cool Tilda ruft an, und ich geh nicht ran. Tilda ruft wieder an, und ich geh ran. Tilda: Ida? Ich: Tilda. Ich will nicht telefonieren. Tilda: Wo bist du? Auf Rügen? Wie hat sie das denn rausgefunden? Ich: Nein. Ich bin auf Sylt. Ich leg jetzt auf. Tilda: Warte. Tilda: Ida. Du musst da gerade nicht allein durch. Komm zu uns. Ida: Doch, ich muss da allein durch. Tilda: Aber wieso? Ida: Weil ich jetzt allein sein will. Tilda: Ida. Ida: Und weil ich eben allein bin. Tilda: Du bist nicht schuld. Sie war am Ende. Tilda: Und Ida, eins noch. Tilda: Das ist so stark von dir, dass du bis zum Schluss bei ihr geblieben bist. Ich spüre, wie der Wutklumpen im Bauch schwer und heiß wird. Dieser Satz macht mich jedes Mal so wütend, ich kann gar nicht genau erklären, wieso. Tilda war nicht bis zum Schluss da, sie war am Schluss gar nicht da, aber deswegen bin ich nicht wütend. Gar nicht. Sie hat einfach nicht das Recht, es gut oder stark oder was auch immer zu finden, dass ich bis zum Schluss bei ihr geblieben bin. Bei ihr zu bleiben war keine Entscheidung oder bewusste Tat von meiner Seite. Es ging einfach nicht anders, Weggehen ging nicht. Ich kann nicht reden. Tilda: Ida? Ich flüstere: Ich leg auf, Tilda. Tilda: Ich hab dich lieb. »Auch«, flüstere ich, lege auf und lasse mich aufs Bett fallen. Ich will zu Tilda, aber ich kann nicht. Ich will allein sein, aber ich will nicht allein sein. Und ich weiß nicht, was dieser Scheißselbstmasochismus soll. Jetzt, wo ich das Smartphone wieder benutzen kann, schaue ich in der Wetter-App, wann die Sonne morgen aufgeht. 4:30 Uhr, das ist früh. Am Abendbrottisch mit Marianne verkünde ich: »Ab morgen früh gehe ich wieder schwimmen.« Die Nacht ist wie immer schrecklich, und als der Wecker um 4:20 Uhr endlich klingelt, springe ich erleichtert auf, schlüpfe in Badeanzug und Pullover und renne zum Strand. Als ich in die aufgehende Sonne am Horizont blicke, atme ich tief ein und bleibe kurz stehen. Dann renne ich in die ruhige Ostsee. Als ich mich ausgepowert und leer in den Sand lege und in den orange-hellblauen Himmel blicke, ist kurz alles gut.

*1995 in Mainz, wuchs sie bei Heidelberg auf. Sie hat Germanistik in Tübingen und Deutsche Literatur in Berlin studiert. Danach arbeitete sie in mehreren Verlagen. 2023 erschien ihr Debütroman 22 Bahnen bei DuMont, für den sie mit dem Ulla-Hahn-Autorenpreis, dem Grimmelshausen-Förderpreis und dem Buchpreis Familienroman der Stiftung Ravensburger Verlag ausgezeichnet wurde. Außerdem wurde 22 Bahnen Lieblingsbuch der Unabhängigen 2023. Caroline Wahl lebt in Rostock